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Das Verbrechen heißt Ignoranz

Rede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das Politische Buch 2014

von Najem Wali
veröffentlich in DIE PRESSE, 13. März 2015

Der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ist der erste bedeutende Preis überhaupt, der mir verliehen wird. Er kommt zu einem Zeitpunkt, über den ich mich mit all seinen Implikationen und zufälligen Überschneidungen für mich nur freuen kann, gerade als Autor, der nur ungern ein Notizbuch mit sich herumträgt. Mein kreatives Credo lautet nämlich: Was das Gedächtnis nicht aufbewahrt, taugt nicht, erzählt zu werden! Und ich brauche auch wirklich nur einmal den Startknopf meines Gedächtnisses zu drücken, schon sprudeln die Geschichten wie aus einem Wasserhahn hervor – weniger, um den Durst nach einem Wiederauflebenlassen vergangener Erinnerungen zu stillen, die wie süße Qualen auf meinem Herzen lasteten, wie bei jemandem, der sich im heißesten Sommer an kühlem Wasser labt, sondern weil es mir Freude bereitet, mein Vergnügen am Erzählen mit der Welt zu teilen, es ist ein Ausdruck von Großherzigkeit, wie das Erzählen überhaupt. Sehen wir uns doch nur einmal an, wie Liebende sich gerade in den Tagen der ersten Verliebtheit mit süßen Wasserströmen übergießen, die sich einen Weg in ihre Herzen bahnen. Und wer erzählt, wird zwangsläufig auch erkennen, wo sich seine Geschichte mit denen der anderen überschneidet. Viele Zufälle. Obwohl es laut RobertMusil ja keine Zufälle gibt, sondern nur eine Menge sich begegnender Möglichkeiten. Oder, um mit Ingeborg Bachmann zu fragen: „Wann begegnen sich unsere beiden Geschichten?“
Sehen Sie, meine Damen und Herren, es geht mir wie mit meinem Roman „Bagdad Marlboro“: Ich kann selbst anlässlich der Preisverleihung nichts sagen, ohne mich in den Strängen „miteinander verwobener Geschichten“ zu verlieren. Aber besteht nicht unser Leben ohnehin aus „miteinander verwobenen Geschichten“? Seien Sie unbesorgt, ich meine hier nicht die „bösen“ Geschichten, die auch nur allzu menschlich sind, denn Krieg ist von Beginn der Schöpfung an so etwas wie unser Normalzustand. Solange sich der Mensch als Tier begreift,lebt er vom Kampf, auf Kosten der anderen, er fürchtet und hasst die anderen: das Leben als Kampf. Die meisten dieser üblen Geschichten kennen wir ja, werden doch heutevielerorts im Namen der Menschlichkeit unerbittliche Kriege geführt. Nein, die miteinander verwobenen Geschichten, die ich Ihnen erzählen möchte, handeln vom Frieden, wobei ich eingestehen muss, wie schwierig es zunächst einmal ist, „Frieden“ überhaupt zu definieren. Frieden ist etwas, was wir eigentlich gar nicht kennen, wir sind nur ständig auf der Suche danach und können ihn ansatzweise erspüren. Frieden ist eine Haltung, ein Ideal. Und um diese Haltungen und Ideale geht es auch in meinen miteinander verwobenen Geschichten.

Beginnen wir also mit dem Zeitpunkt der Preisentscheidung: An einem sonnigen Wintertag, der mit seinem silbrigen Licht jedoch eher einem Herbsttag ähnelte, erreichte mich mitten in Manhattan die Nachricht von der Entscheidung der Jury. Die Nachricht machte mich regelrecht sprachlos. Nichtnur, weil sie so überraschend kam oder weil ich gerade auf einer ganz ungewöhnlichen Reise auf der anderen Seite des Atlantiks unterwegs war, sondern auch aus zwei anderen Gründen. Erstens, weil sie nach einem Reisetag kam, der ganz im Zeichen von „Bagdad Marlboro“, des nun ausgezeichneten Romans, gestanden hatte. Ich bereite gerade dessen Fortsetzung vor und war in New York, um der Stimmung des Buches nachzuspüren, und dazu musste ich unbedingt Fort Meade in Maryland, 200 Kilometer von New York, besuchen, diesen Militärstützpunkt und Sitz der ebenso gefürchteten wie undurchsichtigen NSA. Hier fand auch der Prozess gegen Bradley, jetzt Chelsea Manning statt, den früheren Marines-Angehörigen, der einst in Bagdad diente und später der Webseite Wikileaks Hunderte von Dokumenten zuspielte, dank deren wir heute wissen, welche Verbrechen die Marines im Irak begangen haben. Ohne ihn wäre mein Roman ganz anders ausgegangen, als er es tut.

Eine wahrhaft abenteuerliche Reise, bei der meine Weggefährtin im Wagen am Kontrollpunkt beim Eingang zum Stützpunkt nicht wenig Mut bewies, auch wenn wir letztlich doch nicht in die Festungsstadt hineinkamen, weil dies nur deren etwa 100.000 Bewohnern gestattet ist, die fast alle für die NSA arbeiten. Selbst das Museum, das uns gegenüber den Furcht einflößenden Wachleuten als Vorwand für unseren Besuch diente, selbst das Museum also, das wie alle anderen Museen dieser Welt eigentlich öffentlich zugänglich sein sollte, darf man nur betreten, wenn einer der Bewohner der Festung sich für einen verbürgt. Stellen Sie sich das also einmal vor: Diese gescheiterte Reise fandam 12./13. Dezember 2014 statt. Und just am nächsten Tag erfuhr ich im Apartment 5f in der 25. Straße in Manhattan von der Entscheidung der Jury.

Noch verwunderlicher jedoch war es,dass ich mich nur zwei Stunden später mit Annie Kelemen verabredet hatte, einer alten Dame, die ebenfalls eine Geschichte hat, die sich mit meiner überschneidet. Am 13. Mai 1939 wurde sie mit 14 Jahren zusammen mit anderen jüdischen Kindern mit dem letzten Kindertransport von Wien-Westbahnhof nachLondon gebracht und entging so dem Tod in einem der Vernichtungslager der Nazis, in dem ihre Eltern umgebracht wurden. An dem Tag sah sie ihre Eltern zum letzten Mal. Annie ist eine Bekannte der Mutter meiner Reisebegleiterin und hatte soeben ihren 90. Geburtstag gefeiert. Sie würde mir stolz erzählen, dass sie sich für die Menschenrechte einsetze und nur ein Ziel vor Augen habe: die Befreiung einer Marines-Gefangenen, die völlig isoliert in Einzelhaft gehalten werde, ohne Computer, Zeitung, Radio, Fernsehen. Über ihre Briefe befinde der Zensor, und sie dürfe nur zweimal wöchentlich ihre Zelle für zwei Stunden verlassen. Ihr Name sei Chelsea Manning oder so ähnlich.

Dann breitete Annie vor uns auf demTisch des Restaurants Il Posto, 2nd Avenue/Ecke 18th Street, Flugblätter aus, die „Freiheit für Manning“ forderten – ohne zu wissen, dass der, der ihr da lächelnd zuhörte und sich dabei leise zumurmelte: „Nochmehr miteinander verwobene Geschichten“, kein anderer war als der Autor eines Romans,der gerade zwei Stunden vor dem Treffen mit dem Kreisky-Preis ausgezeichnet worden war. Und dass es sich bei diesem Roman de facto um eine Hommage an diese Gefangene, früher Mann, jetzt Frau, handelt, für deren Freilassung sie sich nun einsetzt – was für ein Zufall!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, seit dem Augenblick, an dem an jenem sonnigen Dezembertag die Sonne Kreiskys aufging über den Fensterfronten und Hausdächern New Yorks, überlege ich, was mich eigentlich mit diesem Mann verbindet, dass ich diesen Preis genau zu diesem Zeitpunkt erhalte. Ja, mein Leben besteht aus einer Reihe von Überschneidungen, wenn wir wie Musil einmal das Wort „Zufall“ vermeiden. Doch welche Überschneidungen verbinden mich mit einer solchen Größe wie Kreisky?

Nachdem ich von dem Preis erfahren hatte, nach der Hochstimmung, auch der ersten Aufregung, nachdem ich Annie zum Abschied noch einen Brief an Manning in die Hand gedrückt hatte, den ich im Restaurant geschrieben hatte und in dem ich ihr mitteilte, dass sie nicht alleine sei und dass ein Iraker einen Roman verfasst habe, der mit ihr zu tun habe, und dass ebendieser Roman soeben mit einem Preis ausgezeichnet worden sei, der wiederum den Namen eines Mannes trage, der sich unermüdlich für den Frieden eingesetzt hatte, nach all dem kam ich endlich langsam wieder zu mir. Ich begann langsam, Puzzlestücke von Informationen zusammenzusetzen, um mir ein Bild von Kreisky machen zu können. Natürlich ist mir, wie jedem in meiner Generation, Kreiskyan sich ein Begriff. Er war ja ein Vermittler im arabisch-israelischen Konflikt, ein Freund der Palästinenser, der Erste überhaupt, der zu einer Zwei-Staaten-Lösung mit einem israelischen und einem palästinensischen Staat aufrief, die sich gegenseitig anerkennen und in Frieden miteinander leben würden. Natürlich war das eine reine Utopie, doch genau die Kraft dieser Utopie war es, die ihn zu einem verlorenen Symbol für den Frieden in unserer Region machte.

Doch nun wollte ich ein umfassenderes Bild von ihm entwerfen, auch von seiner Jugend. Mir war er ja erst als 60-jähriger Kanzler aufgefallen. Was mir zuerst ins Auge stach,war seine Verhaftung 1936 aufgrund seiner politischen Aktivitäten gegen das austrofaschistische Regime. Damals war er 25 Jahre alt und kam für ein Jahr hinter Gitter. Ich versuchte, ihn mir vorzustellen, im Gefängnis und auch in der Zeit davor, als politisch aktiven Oberschüler. Und anstatt gleich an mich selbst zu denken, der ich ebenfalls meine Laufbahn als Aktivist gegen ein nationalistisch-faschistisches Regime begonnen hatte, als ich in der Oberschule war, fiel mir zunächst ein anderer junger Mann ein, nämlich Hans Scholl, der bei seiner Verhaftung 23 Jahre alt war. Zwei junge Männer, die Widerstand geleistet hatten.

War ich selbst nicht auch 23 Jahre alt gewesen, als man mich in die Folterzellen der Baath-Partei und damit eines Diktators geworfen hatte, dem bei seinem Sturz niemand auch nur eine Träne nachweinte? Hans Scholl wurde, wie seine Schwester Sophie, umgebracht. Kreisky und Wali dagegen überlebten und gingen ins Exil, um von dort aus weiter gegen die Diktatur zu kämpfen. Alle meine Romane, alle meine miteinander verwobenen Erzählungen habe ich im Exil verfasst, Sprachen dort gelernt. Die Diktatur sah das Exil als Strafe an, doch wurde es für mich stattdessen zu einem fruchtbaren Feld für neue Schöpfungen, einem offenen Romanprojekt. Und tat Kreisky nicht genau dasselbe?

Das Exil bot Kreisky Raum für Aktivitäten und einen Entwurf der Vision für das Österreich der Zukunft. 18 Jahre nach der Vertreibung der Nazis übernahm er das Außenministerium und ein Vierteljahrhundert nach dem Ende Hitlers verwirklichte er seinen Traum und wurde Kanzler Österreichs. Politik war ihm ein Projekt, eine offene Vision, er arbeitete an einem neuen Österreich. Kann man sich dieses Land heute überhaupt ohne die Leistungen dieses Exilanten vorstellen, der voller Hoffnungen zurückkehrte?

Doch halt! Kreisky war keineswegs nur ein Mann der Politik. In seinem 1954 erschienenen Roman „Zeit zu leben und Zeit zu sterben“ erzählt ein anderer Friedensaktivist, der Mann, der den Grundstein für die moderne, antimilitaristische Weltliteratur legte, der Osnabrücker „Sohn des Westfälischen Friedens“ Erich Maria Remarque, die Geschichte von Ernst Graeber, einem 23 Jahre alten Soldaten, der im Frühling 1944 auf Heimaturlaub von der Ostfront nach Berlin kommt. Alles liegt in Schutt und Asche. Sein Elternhaus steht nicht mehr. Graeber zieht ziellos durch Berlin und trifft zufällig auf Elisabeth Kruse, ein jüdisches Mädchen, dessen Familie von der Gestapo ermordet wurde. Auch sie irrt durch die Trümmer Berlins. Die beiden verlieben sich, nachdem die Zerstörung sie zusammengebracht hat, und beschließen zu heiraten. Wie bitte?, werden jetzt einige fragen. Der Krieg tobt doch noch. Und da fälltdir, Graeber, nichts anderes ein, als zu heiraten? Ja, genau darum geht es im Kern. Stellung beziehen. Signale setzen. Bomben fallen auf Berlin. Hitlerschart seine jugendlichen Standartenträger um sich, ein blutiges Terrorregime wütet – und Graeber will heiraten! Peter Weiss, ein weiterer Friedensaktivist und Zeitgenosse Remarques und Kreiskys, der Kreisky ganz sicher im gemeinsamen Exil in Schweden begegnete, würde das Verhalten Graebers mit Sicherheit als „Ästhetik des Widerstands“ bezeichnen. Und zu Recht. Graeber, den – wie den Soldaten Daniel Brooks aus „Bagdad Marlboro“ – ein schlechtes Gewissen plagt, sucht Antworten bei seinem früheren Professor Pohlmann.

Und wissen Sie was? Seitdem ich die Nachricht von der Preisverleihung erhalten habe, denke ich, dass dieser imaginäre Professor aus Remarques Roman, mit all seinen weisen Urteilen, seiner unerschütterlichen Haltung, seiner Wahrheitsliebe, keine imaginäre Person mehr ist, wie ich noch glaubte, als ich den Roman in den Siebzigerjahren zum ersten Mal las. Nein, seit dem 14. Dezember 2014 steht er mir ganz deutlich vor Augen. Es ist kein anderer als der alte Kreisky, an den wir uns immer noch Rat suchendwenden, so fern er heute auch scheinen mag. Meine Wiener Weggefährtin erzählte mir, wie er für sie, die keinen Vater hatte, zu einem zweiten Vater wurde. War er im Fernsehen zu sehen, freute sie sich wie ein Kind, und wie oft hielt sie vor dem Einschlafen stille Zwiesprache mit ihm!

Jetzt werden Sie sagen: Ach, da kommt nun dieser Wali mit noch so einer von seinen verwoben-verworrenen Geschichten daher, der saugt sich doch was aus den Fingern und zeichnet uns zwei ganz verschiedene Bilder von Kreisky: eines als junger Mann, als Seelenverwandter von Hans Scholl, und eines mit dem Bezug zu Pohlmann, Remarques Professor! Ich kann nur erwidern: Aber warum denn nicht? Freiheitskämpfer im Sinne Kreiskys leben überall auf der Welt verstreut, zu verschiedensten Zeiten an verschiedensten Orten, und gehören unterschiedlichsten Ethnien, Nationen, Hautfarben und Religionen an. Männer und Frauen, die der Geist der Freiheit eint. Sie gingen ins Gefängnis oder insExil, manche kamen dabei um, und sie sind nicht sehr zahlreich, doch sie gehen in das Gedächtnis der Menschheit ein. Heutetoben allerorten zermürbende Kriege. In Nahost, Afrika, vor den Toren Europas, allerorten werden die Kriegstrommeln gerührt. Alle rufen zum Waffengang auf, betreiben Kriegshetze, auch Schriftstellerkollegen. Die Stimmung erinnert an den Ersten Weltkrieg. Manche prangern das offen an, andere lehnen sich untätig zurück. Wie sehr brauchen wir in diesem Schlachtgetümmel Friedensaktivisten vom Schlage Kreiskys!

Meine sehr verehrten Damen und Herren, vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, innezuhalten und mich von Ihnen zu verabschieden – wäre da nicht noch eine andere Geschichte, die mich umtreibt und die ich Ihnen nur schwer vorenthalten kann. Außerdem ist es auch die letzte, versprochen. Die Geschichte trug sich also folgendermaßen zu:Vor einem Jahr stellte ich zufällig fest, dass die Werke Goethes gar nicht aus dem Deutschen ins Arabische übertragen wurden. Ausgerechnet der Verfasser des „West-östlichen Divans“, dieser Sammlung von Reimgedichten, zu der er sich von den Werken des persischen Dichters Hafis inspirieren ließ, also Goethe, dessen „Divan“ eine Mischung aus westlicher und nahöstlicher Kultur, deutsch-persischer Sprache und islamisch-christlicher Religion darstellt, ja, der sich sogar für die vorislamisch-arabische Dichtung interessierte – alle seine ins Arabische übersetzten Werke wurden aus dem Französischen übersetzt! Was für eine Ironie!

Aber, werden Sie jetzt einwenden, was hat das mit Kreisky zu tun? Gemach, Sie werden gleich sehen, wo die beiden das gleiche Schicksal teilen. Als ich in Wikipedia nach Kreiskys Biografie suchte, stellte ich fest, dasssie in 38 Sprachen übersetzt ist, mit Ausnahme von einer Sprache: Arabisch. Ausgerechnet fürdiesen Freund der Araber, einen der ersten Politiker weltweit, der sich für eine gerechte Lösung des Nahostkonflikts einsetzte, gibt es keinen Eintrag auf Arabisch? Liegt das wohl daran, dass er jüdischer Herkunft ist? Oder daran, dass,wer zum Frieden aufruft, zu einer Zwei-Staaten-Lösung, Kriegstreibern und rassistischen Hetzern ein Dorn im Auge ist? Bei meiner letzten Reise nach Baltimore, das laut den Statistiken der US-Bundespolizei aufgrund der Bandenkriege unter den Drogenkartellen die achthöchste Kriminalitätsrate unter den Städten in den USA aufweist – seltsam genug für eine Stadt, die nur wenige Kilometer von Fort Meade und der NSA entfernt liegt! –, in Baltimore also, das mit seinen verlassenen Vierteln einer Geisterstadt gleicht, stößt man im Norden, im Universitätsviertel, auf das Red Emma’s, eine idyllische Oase des Friedens, ein Bistro mit angeschlossenerBuchhandlung und Veranstaltungsraum, in dem allabendlich Lesungen stattfinden. DankGoogle erschließt sich leicht die Biografie der „Roten Emma“, dieser Anarchistin, die seinerzeit ganz Amerika in Aufruhr versetzte. Ein Satz von ihr ist mir besonders im Gedächtnis geblieben, dessentwegen ich Ihnen auch diese verwobene Geschichte so ganz ohne Vorwarnung aufgetischt habe. Das Zitat lautet: „Es gibt kein größeres Verbrechenals Ignoranz.“ Schauen Sie einmal mit mir: Jetzt versucht man auf Arabisch, das Andenken Kreiskys auszulöschen. Die Sprache einerder beiden Konfliktparteien ignoriert ihn. Was für ein Verbrechen!

All das sind miteinander verwobene Schicksale. Kann man es mir da verübeln, wenn ich nicht geradlinig erzähle, sondern immer verwoben und verschlungen, sodass manchen vor Verwirrung ganz schwindlig wird? Doch noch einmal gemach: Erinnert Sie das nicht an einen Lieblingstanz aus Jugendtagen, den Walzer? Eine Leserin schrieb mir vor einigen Tagen, ohne zu wissen, dass ich in der Hauptstadt des Walzers, in Wien, eine Rede halten würde: „Am Ende sah ich Sie als Tänzer, der mich zum Tanz aufforderte und von dem ich mich davonführen ließ. Ich denke hier an einen Walzer, wie ich ihn in meiner Kindheit und Jugend liebte, kein geradliniger Tanz also, sondern voller Drehungen und schleifender Schritte. Er versetzt in taumelnde Ekstase, und die Tänzerin muss den Tänzer dazu ganz sicher mögen. Er dagegen muss den Tanz vollständig beherrschen, sodass beide sich diesem hingeben können. Und da man ja während des Tanzes den ganzen Saal der Länge und Breite nach durchkreuzt, lernt die Tänzerin den Raum gut kennen, so als begebe sie sich in eine bildliche Meditation oder vermesse die Fläche. Genau so erging es mir beim Lesen Ihres Buches. Ich denke jetzt, da ich Ihnen diese Zeilen schreibe, daran, wie ich während der Lektüre nicht innehalten konnte, und kann behaupten, dass ich Sie und Ihr Land vom Gefühl her so kennengelernt habe wie Walzertänzer einen Saal. Sicher, Jahreszahlen, Namen und Ereignisse sind mir nur verworren in Erinnerung geblieben, doch das ist nicht weiter wichtig, denn schließlich kann man auf der anderen Ebene viel mehr begreifen als über den Kopf.“

Sehr verehrte Damen und Herren, der Walzertänzer verneigt sich nun vor Ihnen, es war dies seine letzte Drehung heute Abend hier mit Ihnen. Dieser Preis ist für mich Anreiz und Auftrag, weiterzuschreiben, mich weiter für Völkerverständigung und Frieden einzusetzen. Und auch eine Gelegenheit für mich, gut Walzer tanzen zu lernen, wenn Sie gestatten?

(„Die Presse“, Print-Ausgabe, 14.03.2015)