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Der irakische Sisyphos

Najem Wali über den Vormarsch des Isis im Irak

Der Schriftsteller Najem Wali hat seine Heimat Irak unlängst besucht und registrierte mit Freude eine Renaissance des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Ist die kurze Blütezeit schon am Ende?
Neue Zürcher Zeitung, 26. Juni 2014

Wer Bagdad im Frühling 2014 besucht hat, mag dasselbe gedacht haben wie ich: Die Stadt ist dabei, sich ihre Lebensfreude Stück für Stück zurückzuerobern. Bis im vergangenen April, als ich Bagdad für eine Lesung besuchte, hätte ich mir schwerlich vorstellen können, dass man im Herzen der Stadt, und obendrein im Freien, eine Kulturveranstaltung abhalten könnte, bei der sich über 500 Menschen drängten. Wer hätte das erwartet? Auch auf die Strassen und Märkte war das Leben zurückgekehrt – und das trotz der Gewalt, welche die irakische Hauptstadt nach wie vor heimsuchte. Laut der Statistik der Uno-Mission für den Irak hatten Terroranschläge allein im Februar im Land 703 Todesopfer und 381 Verletzte gefordert, und Bagdad war von solchen Untaten in überdurchschnittlichem Mass betroffen.

Kleine Paradiese
Und dennoch: Die Bewohner hatten es satt, immer nur zu Hause zu sitzen – ganz besonders die Jungen. Ausgehen, flanieren, das war endlich wieder an der Tagesordnung.

Die Menschen strömten in die beliebten Quartiere im Stadtzentrum, von denen die meisten noch bis vor kurzem ab 16 Uhr gesperrt gewesen waren und für den Rest des Tages zu Geisterstädten mutierten. Die Saadun-Strasse etwa, an der sich Restaurants und Hotels, Kneipen und Kinos drängen, oder, gleich am Ende dieser Strasse, das ebenso elegante wie populäre Viertel al-Karrada: Hier pulsierte das Nachtleben wieder, bis um Mitternacht das Ausgehverbot in Kraft trat – und manchmal auch weit darüber hinaus. Im Hotel Bagdad etwa, wo ich logierte, waren Bar und Restaurant bis in die frühen Morgenstunden geöffnet, und die Nachtklubs an der Abu-Nuwas-Strasse nahe dem Ufer des Tigris platzten zwischen zwölf Uhr nachts und fünf Uhr früh aus allen Nähten.

Es gibt sie zur Nacht und bei Tage, die kleinen Paradiese der Freiheit, welche sich die Bewohner von Bagdad eingerichtet haben. Tagsüber kann man sich etwa an die nach einem berühmten Dichter benannte Al-Mutanabbi-Strasse begeben; dort fand auch meine eingangs erwähnte Lesung statt, denn diese Strasse – die älteste in Bagdad – ist das Elysium der Literaturfreunde, wo schon im 8. Jahrhundert Buchhändler und Skribenten ihr Gewerbe trieben und im 9. Jahrhundert bereits Papier hergestellt und verkauft wurde. In ihrer Nähe gründete der Kalif al-Mamun 825 das «Haus der Weisheit» (Beit al-Hikma), das eine essenzielle Rolle bei der Wiederentdeckung der antiken griechischen Wissenschaften spielte. Im Umfeld der Al-Mutanabbi-Strasse treffen sich heute nicht nur Literaturinteressierte, sondern auch Künstler, Maler und Musiker – ein gemischtes, jugendliches Publikum, das sich hauptsächlich mittels Facebook und Twitter verständigt und spontane Aktionen auf der Strasse organisiert; aber auch Familien nutzen am Wochenende gern den Freiraum und die Abwechslung, welche die Gegend bietet.

Ich erinnere mich an ein junges Mädchen, das mich nach der Lesung aus meinem neuen Roman «Bagdad . . . Marlboro» bat, das Buch für sie zu signieren. «Danke, dass Sie extra aus Deutschland gekommen sind, wir brauchen solche Erlebnisse so dringend», sagte sie. Ihre Freundin – beide waren Geigerinnen – war aus einem entlegenen Vorort zu der Lesung gekommen; wie viele Zuhörer hatte sie dabei einen nicht ungefährlichen Weg auf sich genommen, um sich über Literatur und Kunst unterhalten zu können. «Die Schönheit wird sich im Irak nicht entfalten können, solange die Angst herrscht», meinte die junge Frau. «Aber die Schönheit, ob sie nun in der Gestalt der Literatur oder der Musik zu uns kommt, ist Nahrung für die Seele, durch sie können wir Verständnis für das Gute und den Frieden verbreiten.» Sie sei bereit, sich auch an die gefährlichsten Orte zu begeben, um die Menschen mit Musik und Gesang zu erfreuen.

Hier der Terror, die Autobomben, die schwache und korrupte Staatsmacht; dort diese jungen Menschen, die bereit sind, alles zu riskieren und alles zu geben, um dem Irak ein neues Gesicht zu verleihen. Sie sind es, die ich nun vor meinem inneren Auge sehe – als verkohlte oder blutige Leichname, zur Strecke gebracht von den Extremisten der Organisation Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis). Die Nachrichten aus Bagdad verheissen nichts Gutes, die Menschen sind in Angst, auf drei Achsen rücken die Isis-Streitkräfte gegen die Hauptstadt vor. Und für diese bärtigen Mörderbanden haben Literatur, Kunst, Ästhetik keine Bedeutung; stattdessen bringen sie den Staub des Mittelalters mit sich, verwüsten das Grüne so gut wie das Dürre, zerstören alles, was mit Leben und Schönheit zu tun hat. Man braucht nur die Weisungen anzusehen, die sie in den eroberten Städten, von Mosul bis Tikrit, erliessen: «Züchtigkeit, Verschleierung und Verhüllung» forderte eines der in Mosul verteilten Reglemente von den Bewohnerinnen der Stadt; sie hätten sich in die Frauengemächer zurückzuziehen und die Öffentlichkeit zu meiden. Ebenso wurde vor dem «Verkauf alkoholischer Getränke, dem Tabakkonsum und anderen Verstössen gegen die religiösen Gebote» gewarnt. Was die schiitischen Wallfahrtsorte und die dortigen Heiligtümer angeht, ist die Botschaft ebenfalls klar: «Kein Grab, das wir nicht dem Erdboden gleichmachen, kein Schrein, den wir nicht zerstören werden!»

Erwachen auf dem Scherbenhaufen
Wie war das doch wieder mit Sisyphos? Er sei so schlau gewesen, heisst es im Mythos, dass er sogar den Todesgott Thanatos überlistete, und er erzürnte die Götter derart, dass ihn am Ende die bekannte Strafe ereilte: Bis in alle Ewigkeit muss er im Totenreich einen Felsbrocken in die Höhe wälzen, der jedes Mal kurz vor Erreichen des Gipfels wieder zu Tale rollt. Gäbe es ein besseres Symbol als diese Verkörperung endloser Qual für das, was die begabten jungen Menschen im Irak durchmachen?

Wann immer es ihnen in den letzten Jahren gelungen ist, sich einen Freiraum zu erobern, wann immer sie glaubten, etwas frische und reine Luft atmen zu dürfen, erwachten sie auf einem Scherbenhaufen. Alle ihre kleinen Paradiese sind verwüstet worden. Was sie den letzten Jahren der Saddam-Diktatur an individuellen und kulturellen Freiheiten abgetrotzt hatten, zerstörten die amerikanischen Marines; was in der Zeit nach dem Sturz des Diktators entstand, machten islamistische Milizen und Banden zunichte. Jedes Mal müssen sie wieder beim Nullpunkt beginnen, ihren Fels erneut aus dem tiefsten Tal emporwälzen – und dabei ist ihnen, im Gegensatz zu Sisyphos, keineswegs die Macht geschenkt, dem Tod, Gott oder Gottes selbsternannten Stellvertretern auf Erden von der Schippe zu springen. (Aus dem Arabischen von as.)