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„Deutschland muss sich viel mehr einsetzen“

Die DW traf Najem Wali beim Literaturfest München, wo er darüber sprach, wie Europa auf die Gefahr durch den ‚Islamischen Staat‘ reagieren soll.

DW: Der sogenannte ‚Islamische Staat‘ trägt Demagogie, Chaos und Mord inzwischen auch nach Europa. Wo hat der europäische Dschihadismus seine Wurzeln?
Najem Wali: Der ‚Islamische Staat‘ entstand anfänglich mit Finanzierung durch Saudi-Arabien und Katar, er hat seinen Kampf mit westlichen Waffen begonnen. Inzwischen ist er ein Staat mit eigenen Einkommensquellen, der in den von ihm beherrschten Gebieten Steuern erhebt. Die Dschihadisten verfügen über Bodenschätze, sie schmuggeln Öl über die Türkei nach Europa. Daneben haben sie immer noch einige Sponsoren in den Golfstaaten. Man schätzt, dass 28 Prozent des IS-Geldes von dort kommen.

Wenn wir von den Akteuren sprechen: Das sind Kids aus Europa, Desperados, die von außen instrumentalisiert und finanziert werden. Der Dschihadismus in Europa wird getragen von Jungs, die hier geboren sind, die sich marginalisiert und nicht anerkannt fühlen. Sie werden instrumentalisiert und ausgenutzt von einer Fanatikerideologie, die aus Saudi-Arabien kommt. Auch hier in Deutschland sollten wir uns zum Beispiel fragen, was aus den Kids geworden ist, die in den 90er Jahren in der saudischen Schule in Bonn ausgebildet wurden.

Saudi-Arabien bekämpft den Islamischen Staat inzwischen …
Jetzt. Und Saudi Arabien sagt auch, wer angeblich jetzt moderat sei: zum Beispiel die Al-Nusra-Front. Aber die Kämpfer der Al-Nusra-Front sind genau solche Mörder wie die des IS, die Front ist ein Ableger von Al-Qaida. Jetzt sagt man schon, Al-Qaida sei im Vergleich zum IS auch moderat. Das ist alles Schwachsinn. Ich persönlich möchte mir nicht von Saudi-Arabien diktieren lassen, wer gemäßigt und wer fanatisch ist. Fanatisch ist die Ideologie des Wahabismus. Das Phänomen des europäischen Dschihadismus ist deshalb so gefährlich geworden, weil die Politik so lange inaktiv war. Die Gefahr des Radikalismus wurde außer Acht gelassen und verharmlost, so lange der Terror außerhalb der Grenzen Europas stattgefunden hat.

Ihr Pariser Schriftstellerkollege, der Journalist Karim Miské, hat in der Süddeutschen Zeitung den europäischen Dschihadismus als „den radikalsten Protest, den es derzeit gibt“ bezeichnet und ihn mit dem politisch motivierten Terror der Rote Armee Fraktion in den 70er Jahren verglichen. Sehen Sie eine vergleichbare politische Motivation?
Natürlich hat der Dschihadismus eine politische Motivation, aber ich würde ihn nicht mit der RAF vergleichen. Wir kennen deren Geschichte, den durch die radikalen Palästinenser unterstützten Terror mit Entführungen und Selbstmordattentaten. Aber die palästinensischen Führer dieser Organisationen, beispielsweise George Habash und Wadi Haddad, sie waren alle Christen.

Was wir jetzt erleben, ist mit den Geschehnissen im Nahen Osten verbunden. Der IS ist jetzt ein Staat innerhalb des Iraks, ein gefährlicher, der die Religion für politische Ziele instrumentalisiert. Man muss ihn ernst nehmen. Bisher hat Europa die Situation nicht ernst genug genommen. Man hat gedacht, der ‚Islamische Staat‘ ist im Nahen Osten, die Jungs gehen hin und bringen dort ihre eigenen, die arabischen, muslimischen Leute um. Aber jetzt melden sich die Jungs zurück. Und sie sind inzwischen auch verzweifelt, weil der ‚Islamische Staat‘ in der letzten Zeit in die Defensive geraten ist. Europa hat nicht damit gerechnet, dass diese Jungs jetzt zurückkommen, und das war ein Fehler.

Außerdem haben auch die Geheimdienste versagt. Wo sind deren Ergebnisse? Wie konnte sich Abdelhamid Abaaoud, der Kopf dieser Gruppe, frei durch Deutschland, Österreich und Frankreich bewegen und sogar trotz eines Vermerks bei Kontrollen frei passieren? Das bleibt mir ein Rätsel.
Frankreich Polizei vor dem Eiffelturm
Ausnahmezustand in Frankreich nach den Attentaten vom 13. November

Wie kann sich Europa denn gegen den Terror wehren?
Europa kann sich wehren, indem es seine eigenen Werte bewahrt. Was jetzt in Frankreich geschieht, dass man den Ausnahmezustand so lange beibehält und die Bürgerrechte beschneidet, sehe ich sehr kritisch. Mit welcher Legitimation agiert man dann noch gegen den ägyptischen Präsidenten Abdel Fattah al-Sisi? Al-Sisi hat auch den Ausnahmezustand ausgerufen und viele Muslimbrüder als Terroristen bezeichnet und eingekerkert. Warum kritisiert man Diktatoren oder Politiker im Nahen Osten oder in der Welt, die eine Gefahr spüren und den Ausnahmezustand ausrufen und Freiheiten abschaffen? Wenn Europa wie eine Diktatur im Nahen Osten wird, dann hat es vor den Terroristen kapituliert.

Den Terrorismus kann man nur bekämpfen, indem man seine Ursachen bekämpft. Ich glaube nicht, dass es etwas bringt, jetzt einige Fanatiker auszubürgern. Wohin denn mit ihnen? Auch mit Strafen kann man den Terrorismus nicht bekämpfen – wie wollen Sie denn einen potenziellen Selbstmordattentäter bestrafen?

Die Frage wird immer drängender: Soll der Westen im Irak und in Syrien stärker intervenieren?
Der Westen sollte politisch stark intervenieren, was er bisher vernachlässigt hat. Er redet nur von militärischem Druck, das ist ein großer Fehler. Wenn die Regierung in Deutschland denkt, dass die einzige Antwort auf Paris sein könnte, dass man die Kurden bewaffnet, ist das lächerlich. Es wimmelt in der Region von Waffen. Weder Kurden noch Araber brauchen Waffen. Notwendig wäre eine stärkere Unterstützung für Reformkräfte und dass man politisch aktiver agiert: mehr Austausch, mehr gegenseitige Besuche. Es geschieht selten, dass ein Außenminister in den Irak reist – von Syrien möchte ich aktuell nicht unbedingt sprechen. Aber man muss eine politische Lösung finden, auch im Irak.
Syrien Frankreich Luftangriffe auf Rakka
Frankreich hat nach den Anschlägen seine Luftangriffe auf Stellungen des IS verstärkt

Gemäßigte Politiker wie Haider al-Abadi im Irak oder Palästinenserführer Mahmud Abbas erhalten nicht genügend Unterstützung vom Westen. Die Extremisten nutzen das aus. Wenn der Westen den Terrorismus schwächen will, sollte er das nicht mit Bomben tun. Mit Bomben erreicht man nichts. Der ‚Islamische Staat‘ – die sind wie die Ratten, die verschwinden in ihren Löchern und kommen aus anderen wieder heraus.

Ich plädiere für starke politische Einmischung, Unterstützung der Reformkräfte und wirtschaftliche Beziehungen. Und: Der Westen muss seine Beziehungen zu Saudi-Arabien und Katar überdenken. König Salman von Saudi-Arabien ist der Salafist aller Salafisten, er ist total fanatisch. Aber als in Paris die Anschläge passierten, war er bei dem G-20-Treffen mit dabei! Das ist absurd. Auch auf Erdogan müsste man Druck ausüben – die meisten Terroristen kommen über die Türkei.

Wie sehen Sie Deutschlands Rolle in Bezug auf den Mittleren Osten?
Deutschland könnte eine wichtige Rolle als Vermittler spielen, da es von den Akteuren im Nahen Osten akzeptiert ist. Aber leider verhält sich Deutschland zu zurückhaltend. Außenpolitik wurde mehr vom Verteidigungsministerium aus gemacht als im Außenministerium. Man hat sich auf Waffenlieferungen und Militäreinsätze, sei es auch zur Schulung oder zur Friedenssicherung wie in Mali, Afghanistan oder Irak, konzentriert.

Warum arbeitet das Goethe-Institut in Bagdad in so kleinem Rahmen mit nur einer Repräsentantin dort – wenn auch einer sehr tapferen, die aber kaum etwas bewirken kann?! Deutschland könnte sich sehr viel mehr einsetzen. Und ich denke, das muss es tun.