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Hella Mewis ist wieder frei!

Nach fünf Tagen im Schockzustand über Hella Mewis‘ Entführung, fünf Tagen des angespannten Wartens und der Sorge, nun einmal eine freudige Nachricht aus Bagdad: Hella Mewis ist wieder frei! Welche Bedeutung hat ihre Arbeit für die jungen Künstler vor Ort?

Ein Gastbeitrag von Najem Wali,  SPIEGEL online, 25. Juli 2020

Irakische Kulturszene
Auf den ersten Blick herrscht heute Demokratie
Ich kenne Hella Mewis, diese wunderbare Frau, seit 2011, als sie von Kairo nach Bagdad kam, sich in die Stadt verliebte und beschloss, allen Gefahren zum Trotz, zu bleiben. Im Jahr 2015 eröffnete sie dort das „Bait Tarkib“ („Haus der Gestaltung“), ein Zentrum für junge Künstler.

Im Frühling 2014 veranstaltete sie mit mir in der Ruine des ehemaligen Gerichtsgebäudes in der Mutanabbi-Straße die erste Lesung aus meinem Roman „Bagdad Marlboro“, in Deutsch und Arabisch. Ich weiß noch, wie sie auf dem Weg dorthin wegen des dichten Verkehrs aus dem Taxi steigen und zu Fuß weitergehen wollte. Aus Sorge um sie zögerte ich zunächst, denn wir mussten durch ein ärmeres Viertel mit engen Gassen. Doch zu meiner Überraschung kannten die Menschen sie dort. Alte Leute, die vor ihren Häusern in der Sonne saßen, standen auf und begrüßten sie: „Willkommen, Madame!“ In fast allen Bagdader Geschäften und Klubs war Hella bekannt und respektiert. „Sie brauchen keinen Ausweis, Hella ist Ihre ID“, hieß es in meine Richtung von sämtlichen Wachleuten.Im Sommer 2017 organisierte Hella Mewis in Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft zwei Veranstaltungen mit mir, eine im Botschaftsgebäude und eine im Sitz der Zeitung al-Mada. Im Sommer 2018 kam ich auf Einladung des Goethe-Instituts mit dem deutschen Dichter Asmus Trautsch nach Bagdad, Hella organisierte zwei Events für uns. In den Sommern 2018 und 2019 veranstalteten wir unter dem Titel „Najem und seine Freunde“ jeweils eine Dichterlesung auf dem Dach des Bait Tarkib.

Auch sonst blieben Hella und ich in Kontakt. Ich beneidete sie um ihre Ausdauer und Energie bei der Förderung junger Talente. Eine Auswahl von ihnen kam mit einem Stipendium für künstlerische und kulturelle Zusammenarbeit nach Deutschland, um dort mit deutschen Künstlern zusammenzutreffen. Anders als die übrigen deutschen Organisationen brachte Hella nicht deutsche Künstler in den Irak, sondern irakische nach Deutschland.

Ohne das Coronavirus wäre ich jetzt wieder in Bagdad, um an unserem neuesten gemeinsamen Projekt zu arbeiten: einem von mir verfassten literarischen Reiseführer, zu dem Hella die Fotos beisteuern sollte.

Ich könnte noch ewig damit fortfahren, Hellas vergangene und gegenwärtige Aktivitäten aufzulisten. Die eigentliche Frage aber ist, welche Bedeutung Hella Mewis‘ Arbeit für die jungen Künstler hat.

Um sie zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick auf die Bagdader Kulturszene der letzten Jahre zu werfen.

Nach dem Sturz des IS-Staates und der Befreiung Mossuls im Sommer 2017 herrschte in den Kreisen irakischer Literaten und Künstler, besonders in der Hauptstadt Bagdad, ein vorsichtiger Optimismus. Eine ähnliche Welle des Optimismus hatte es bereits nach dem 9. April 2003 gegeben, als nach dem Sturz der Diktatur auch die Zensur aufgehoben war.

Wer, vor allem zwischen 2017 und 2019, die Menschen auf den Bagdader Straßen und Märkten beobachtete, traute seinen Augen nicht. So schnell hatte sich diese Stadt, die so oft in den Nachrichten gewesen war, gewandelt. Hatte man früher vor allem im Herzen der Stadt ab vier Uhr nachmittags nur noch wie ausgestorben daliegende Geisterviertel vorgefunden, weil die Menschen um diese Uhrzeit sämtliche Türen verrammelten, war nun alles bis spät in die Nacht hinein geöffnet. So zum Beispiel in der Saadun-Straße, bekannt für ihre vielen Hotels, Restaurants, Kneipen und Kinos. Genauso am Ende dieser Straße, in dem vornehmen und dennoch volkstümlichen Viertel Karrada (wo Hella Mewis entführt wurde). Die Bar und das Restaurant dort hatten bis in die frühen Morgenstunden auf.

Ein Klima, das das Arbeiten erschwert
Solche kleinen Paradiese, die die Einwohner Bagdads sich erkämpft haben, gibt es viele, manche bei Tag und manche bei Nacht. Tagsüber, vor allem freitags, ist die Mutanabbi-Straße ein solches Paradies. Für den, der sie nicht kennt: Sie ist die älteste Straße der Stadt. Hier wurde im 9. Jahrhundert das erste Buch in der uns heute geläufigen Form veröffentlicht, allerdings noch in größerem Format und mit der Hand geschrieben.

Die Mutanabbi-Straße oder, wie sie früher hieß, die Straße der Papierhändler, ist traditionell der Ort in Bagdad, an dem Bücher verkauft werden. Dort wurde auch das Haus der Weisheit gegründet, sozusagen die erste Universität der Menschheitsgeschichte. Ich nenne diese Straße auch Straße der Kultur, denn sie ist ein weiterer Ort, der neben Lesern und Autoren ein junges, bunt gemischtes Publikum anzieht, Künstler, Maler und Musiker. Die meisten dieser jungen Leute stehen über soziale Medien wie Facebook in Kontakt und organisieren in dieser Straße Liveevents.

Doch wie bitter wurden diese jungen Menschen enttäuscht, die geglaubt hatten, sich dort, zwischen Karrada und der Mutanabbi-Straße, eine „unabhängige“ kulturelle Nische jenseits der offiziellen Staatspolitik und des religiösen Extremismus islamischer Parteien, frei von jeglicher Gehirnwäsche geschaffen zu haben! Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis sie eine neue Art von Extremismus und Zensur zu spüren bekamen.

Diese abgesehen von ihren künstlerischen Mitteln völlig wehrlosen jungen Leute sahen sich zunehmend in die Zange genommen: auf der einen Seite die Milizen, die im Gewand des Siegers über den IS zurückgekehrt waren, sich mit der Gewalt ihrer Waffen die Straße unterwarfen und einander die Beute abzujagen suchten, auf der anderen Seite eine korrupte Regierung, deren Ministerien, Behörden und Botschaften mafiöse Strukturen aufweisen.

Auf den ersten Blick herrscht heute Demokratie, gibt es keine Zensur mehr. Der Intellektuelle genießt absolute Freiheit und kann reden, kritisieren, schimpfen und enthüllen, so viel er will. Sollte aber dieser Intellektuelle im Sturz des IS-Staates eine Gelegenheit erblickt haben, mit seinen kreativen Projekten loszulegen, so muss er sich nun eingestehen, dass ihm dies nicht möglich ist.

Denn angesichts des Sterbens, der Alltagssorgen und Krisen sowie der Herrschaft politischer Mafias und der neuen Oligarchie wird ihm klar, dass er keinerlei Einfluss hat auf das, was vor seinen Augen geschieht, dass er dem sinnlosen Sterben und den nach den Demonstrationen im Oktober 2019 zunehmend aktiver werdenden Entführungsbanden nichts entgegenzusetzen hat.

Alaa Mashzoub war der erste irakische Schriftsteller, der getötet wurde, wegen einer Kolumne, in der er die Milizen kritisierte. Vor seiner Haustür wurde er von dreizehn Kugeln durchsiebt. Zwei Monate später wurde der Publizist und Autor Mazin Latif in der Nähe von Mutanabbi-Straße entführt, kurz danach wurde der Journalist Tawfiq al-Tamimi, der für die Regierungszeitung al-Sabah arbeitete, verschleppt. Die Entführer stoppten den staatlichen Bus, in dem er mit seinen Kollegen zur Arbeit fuhr, und zerrten ihn heraus. Sein Schicksal ist bis heute ungewiss. Vor einigen Tagen wurde der Politikanalyst Hischam al-Haschimi ermordet.

Und vor fünf Tagen war Hella Mewis an der Reihe.

Die Milizen setzten ihren eigenen Staat, ihre eigene Zensur, ihre eigenen Gesetze durch, frei nach dem Motto: „Ich gründe mir mein eigenes Reich und schalte und walte, wie ich will. Und wenn sich mir einer widersetzt, dann wartet auf ihn eine Kugel.“ Nach der Tötung des iranischen Generals Qasem Soleimani wurde der Kampf dieser Milizen gegen die USA noch erbitterter. Und Bagdad ist der Schauplatz dieses Krieges zwischen den unzähligen für den Iran arbeitenden Milizen und den Amerikanern, die in dieser Stadt ihre weltweit größte Botschaft unterhalten.

In einem solchen Klima fällt kreatives Arbeiten schwer. Wie in Diktaturen üblich, bleibt den Künstlern und Autoren nur die Wahl, entweder zu schweigen, zu sterben oder ins Exil zu gehen. Ein paar junge Kreative beiderlei Geschlechts jedoch haben eine weitere Option für sich entdeckt: das Exil im Bait Tarkib, bei Hella Mewis. Viele von ihnen haben in den letzten zwei Jahren in diesem Haus eine Heimat gefunden. Sie malen, musizieren, singen, tanzen.

Die politischen Tumulte im Irak machten auch Hella Mewis zu schaffen. Als im vergangenen Herbst die jungen Iraker auf dem Midan Tahrir gegen die Korruption, die Willkür der Milizen und die iranische Einflussnahme protestierten, konnte sie angesichts der vom Staat ausgehenden Gewalt nicht länger schweigen.

Mitte Oktober publizierte sie eine verzweifelte Erklärung, in der sie vom Einsatz scharfer Munition gegen Demonstranten schrieb, von Vorbereitungen auf einen „kriegsähnlichen Zustand“. Zum vielleicht ersten Mal in Bagdad machte Hella sich Sorgen.

Hella Mewis‘ „idealer Staat“ en miniature erinnert uns an François Truffauts kleines kulturelles Paradies in dem Film „Fahrenheit 451“. Er ist, um einen Ausdruck von Peter Weiss zu bemühen, eine Form der „Ästhetik des Widerstands“. Diesem Staat droht nun das Ende – auch nach Hella Mewis‘ Befreiung. Denn gewiss wird die deutsche Regierung von ihr verlangen, dass sie den Irak verlässt, und genauso gewiss wird sie, wie ich sie kenne, dagegen protestieren, wird die deutschen Behörden vergeblich zu überreden versuchen, sie in ihre Stadt Bagdad und ihr Bait Tarkib zurückkehren zu lassen. Auch die irakischen Behörden wird sie vermutlich vergeblich um eine neue Aufenthaltsgenehmigung angehen. Doch es scheint, als sei der Bruch, zu dem es durch ihre Entführung gekommen ist, nur noch schwer zu kitten.

Hella Mewis, die verliebt ist in Bagdad, wie sie jedes Mal zu Protokoll gibt, wenn jemand sie fragt, warum sie das Risiko auf sich nimmt, dort zu leben, wird sich diesmal von ihrer Liebe verabschieden müssen. Und wie diese beiden, Hella und die Stadt, nicht voneinander zu trennen sind, so ist auch die Bagdader Kulturszene untrennbar mit ihr verbunden.