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Idomeni: Begegnungen an der griechisch-mazedonischen Grenze

Die Frau, die mich schätzen lässt, wie alt sie ist. Der 23-Jährige, der den Belgiern beweisen will, dass sich nicht hinter jedem langen Bart ein Terrorist versteckt. Der Alte, der mit einem „weisen Politiker“ über den Waffenhandel sprechen möchte. 

von Najem Wali, Mai 2016

Die Kleinstadt Polikastro, in der Präfektur Kilkis, Zentralmakedonien, im Norden Griechenlands gelegen, hatte bis vor Kurzem noch um ihren Platz auf der Landkarte zu kämpfen, da sie das Los aller Provinzstädte teilte: Die jungen Leute zogen weg, denn es fehlte an Jobangeboten. Inzwischen jedoch sieht die Situation ganz anders aus, da das Städtchen zu einer wichtigen Transitstation mutiert ist. Bis auf den Militärfriedhof für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen britischen Soldaten, der, wie alle anderen Militärfriedhöfe des Vereinigten Königreichs auf der ganzen Welt auch, an einen prachtvollen englischen Garten erinnert, hatte das Städtchen nichts, was es zu einer Attraktion für Besucher hätte machen können. Dies zumindest war der Stand der Dinge, bis die Republik Mazedonien seine Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Nordeuropa abriegelte.

Der Grenzübergang Idomeni zwischen Griechenland und Mazedonien ist ein Dorf mit knapp 300 Einwohnern, von denen die meisten in der Landwirtschaft arbeiten. Zur Zeit meiner Ankunft bestand von dort keine direkte Verbindung mehr zu den übrigenStädten Griechenlands, da der Zugverkehr, der Idomeni anbindet, eingestellt war, nachdem die Flüchtlinge ihre Zelte auf den Schienen errichtet hatten. Wer also etwas mit dem Flüchtlingslager in Idomeni zu tun hatte, von Berufs wegen oder als Besucher, musste sich eine andere Unterkunft suchen, und was wäre dafür eher in Frage gekommen als das Städtchen Polikastro, das nur zwölf Kilometer von Idomeni entfernt liegt?Polikastro war auch meine erste Station. Um leichter in das Lager zu gelangen und dort Freiwilligenarbeit zu leisten, vor allem Übersetzerdienste aus und in die Sprachen, die ich spreche, zumal ich nichts mit irgendeiner der dort tätigen Organisationen zu tun habe und nur gekommen war, um mir ein eigenes Bild von dem Lager zu machen und zu helfen, wo ich konnte, hatte ich überlegt, es sei am besten, mir ein Hotelzimmer in Polikastro zu nehmen. Doch zu meiner Überraschung musste ich erfahren, dass sämtliche Hotels in Polikastro ausgebucht oder schon vorreserviert waren. Sogar die Privathäuser, über Nacht zu Pensionen geworden, waren allesamt belegt. Der Besitzer des Hotels Astro, der fließend Deutsch sprach, sagte mir spöttisch lächelnd: „Selbst in der Hochsaison im Sommer haben wir meistens nur zwei Zimmer vermietet bekommen. Aber heute“, und er deutete mit der Hand auf den kleinen Ort, „finden Sie nicht ein freies Zimmer mehr.“ Ja, er überlege schon, noch schnell ein Stockwerk draufzusetzen. „Wer hätte das gedacht?“

Niemand weiß, wann die griechischen Behörden das Lager Idomeni schließen werden, doch einige machen kaum einen Hehl aus ihrer Hoffnung, das Lager möge bestehen bleiben. Denn parallel zur Hoffnung der Flüchtlinge auf eine Öffnung der Grenze und ein Ende der Heimsuchung hoffen diejenigen, die von der Situation profitieren, die Grenze möge geschlossen bleiben. Die Einwohner von Polikastro zum Beispiel, die Betreiber der kleinen Restaurants dort, wo innerhalb von Minuten alle Tische immer wieder besetzt sind von Mitarbeitern der Hilfsorganisationen oder Flüchtlingen, die zu Fuß aus zwei anderen, kleineren, nur etwa vier Kilometer vonPolikastro entfernt gelegenen Lagern kommen. Wer nicht hier sitzt, um etwas zu essen, ist wegen des Internets da.

Noch Anfang des Jahres war der traditionelle, mit Schweinefleisch zubereitete Gyros-Sandwich das unangefochten beliebteste Fastfood-Gericht in der Stadt. Heute bieten die Restaurants vor allem Döner Kebab aus Geflügel-, Kalb- oder Lammfleisch an. Und die Ladenbesitzer sind dazu übergegangen, die Waren in den Schaufenstern ihrer Läden auf Arabisch feilzubieten, etwa „ein Mittel, um Schlangen zu töten“. Denn die Hitze kommt, und jeden Tag müssen die Flüchtlinge mehrere große Schlangen erlegen. Immerzu finden sich neue Waren, ganz auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge zugeschnitten, Antibiotika zum Beispiel und andere Medikamente, welche die Mitarbeiter von „Ärzte ohne Grenzen“ und anderer Gesundheitsorganisationen nicht ohne Weiteres herausgeben. Flüchtlinge jedoch, die fest entschlossensind, diese Arzneien zu bekommen, können in den wenigen Apotheken Polikastros davonkaufen, so viel sie wollen.

Auch Milchpulver ist gefragt. Die Supermärkte sind gut besucht, der deutsche Lidl, an der Schnellstraße gelegen, ist von eindrucksvoller Größe, und die Fahrzeuge der NGOs und Hilfsorganisationen gehören der Stammkundschaft. Denn auch die für die Hilfsorganisationen arbeitenden Menschen träumen insgeheim davon, dass das Lager bestehen bleibt, insbesondere die Griechen unter ihnen, die bis vor Kurzem noch arbeitslos waren.

Helena Christides zum Beispiel, Mitte 30, hat gerade erst eine Anstellung erhalten. Bis Ende Juni, wie sie mich wissen lässt. Helena lernt seit Kurzem Englisch. Ich habe sie über einen griechischen Freund bei einer Theateraufführung in Saloniki kennengelernt. Helena schien sehr glücklich über die Gelegenheit, endlich wieder zu arbeiten, und feierte in jener Nacht ausgiebig ihren neuen Job. Ihre Lehrerin, die mit ihr zusammen die Aufführung besuchte, eine Dame Ende 40, wirkte ebenfalls glücklich, da vermehrt Schülerinnen und Schüler aus Saloniki die Sprachschule besuchen, in der sie unterrichtet, um Englisch zu lernen und dann im Flüchtlingslager zu arbeiten. So als würde es das Lager für immer geben. Adam, ein kauziger Ire, der in einer Großküche arbeitet, die jeden Tag die Flüchtling mit Essen versorgt, meint, wenn es nach ihm ginge, würde er die Grenzen Irlands für Flüchtlinge öffnen. „Wir sind käsebleich und hässlich“, erklärt er ironisch. „Wir könnten schwarze Augen und ein bisschen dunklen Teint gebrauchen, um Irland schöner zu machen.“ Dabei lacht er. Adams Arbeitsvertrag in Idomeni läuft bis Ende August.

Sogar die Kirche hofft darauf, das Lager möge bestehen bleiben. Der örtliche Patriarch besucht die Zeltstadt in regelmäßigen Abständen, um Christen mit einer Bürgschaft der griechisch-orthodoxen Kirche dort herauszuholen. Am Anfang nur orthodoxe Christen. Doch da deren Zahl gering ist – und damit es nicht heißt, die Kirche mache einen Unterschied zwischen den verschiedenen christlichen Konfessionen – ist man dazu übergegangen, alle Christen aus dem Lager zu holen. Die aus der Not befreiten Familien leben nun unter deutlich besseren Konditionen in den Klöstern der näheren Umgebung.

„Jetzt weiß ich um meinen Wert als Mensch“, sagt mir Lilian, eine irakische Christin aus Bagdad, die sich mit ihrem gerade 20 Jahre alt gewordenen Sohn auf die Flucht gemacht hat. Er ist Automechaniker, hat in Bagdad aber keine Schule besucht. „Ich habe alle Kriege im Irak erlebt“, sagt Lilian, „aber das Leben im Lager war schlimmer als alle Kriege.“

Nicht nur Lilian sagt das, auch von den Syrerinnen sind solche und ähnliche Sätze zu hören. „Wie alt schätzt du mich?“, fragt mich Zahida, die ihre kleine Tochter auf dem Arm hält. Vielleicht ist sie Ende 30, vielleicht auch jünger. Unwichtig. Das Einzige, was feststeht: dass die zurückliegenden Monate im Lager für sie und ihre Leidensgenossinnen eine Qual gewesen sind. „Geht es hier etwa jemandem schlechter als einer Mutter, die nichts für ihre Kinder bekommen kann?“, meint Tamara zu mir, eine Kurdin, Mitte 40 vielleicht, deren Gesicht aber das einer alten Frau ist.

Das Elend, der Schmutz und fehlender Schlaf sind auf den Gesichtern der Frauen allgegenwärtig. Auch auf den Gesichtern derjenigen, die keine Kinder haben. Shahira zum Beispiel, die aus der südwestlich von Damaskus gelegenen Region Ghouta stammt. Sie hätte wohl nie geglaubt, dass sie mich ausgerechnet in diesem von Dreck starrenden Lager unter menschenunwürdigen Bedingungen wiedertreffen würde,ebenso wenig wie ich mir je hätte ausmalen können, ihr in einem von spanischen Ärztinnen geleiteten medizinischen Zentrum wiederzubegegnen. Ich stand gerade mit Doktor Theresa zusammen und übersetzte für sie aus dem Spanischen ins Arabische eine Broschüre, mit der junge Mütter über die Pflege ihrer Kinder und die Menge Milch, die diese brauchen, unterrichtet werden sollen, als Anna, eine andere spanische Ärztin, auftauchte und mich bat, ich möge zwischen ihr und einer Kranken übersetzen. Und beide Ärztinnen verstanden nicht, was Shahiras Schrei zu bedeuten hatte, als sie meinen Namen hörte: „Großer Gott, ausgerechnet hier treffe ich dich?“ Es war einer dieser Augenblicke, in denen die Welt zum Stillstand kommt und an einem einzigen Punkt verharrt, da alles, was wir vergessen haben, wieder gegenwärtig wird und plötzlich die Vergangenheit aus dem Tal des Vergessen wieder auftaucht.

Ich hatte Shahira bei meiner ersten Reise nach Damaskus als Tourist 1983 kennengelernt, einer Zeit, in der eine ganze Reihe irakischer Schriftsteller und Künstler meiner Generation in Damaskus im Exil lebten. Niemals werde ich die Abende vergessen, die ich auf jener kurzen Reise im Hause ihres Vaters erleben durfte, des Schriftstellers Mustafa al-Mauli. Wie wir Wein tranken und diejenigen von uns, die ein Instrument spielten, musizierten. Shahira, die damals vielleicht sieben oder acht Jahre alt war, tanzte und sang mit kindlicher Stimme dazu. Und heute? „Unser Zuhause ist zerstört“, sagt sie mir. „Vater ist gelähmt, und das Haus in Ghouta wurde bombardiert.“

Shahira möchte einen Rat von mir. Ich möge ihr nur sagen, was sie tun soll. „Kehr zurück, oder beantrage hier in Griechenland Asyl“, antworte ich. Doch sie sagt, wie soll das gehen? Der einzige Weg, hier Asyl zu beantragen, laufe über Skype. Neun griechische Beamte seien über Skype mit der Aufnahme von Asylanträgen beschäftigt, wie sie erfahren habe, viel zu wenig angesichts von Tausenden von Flüchtlingen. Die Leitung ist dauernd besetzt, und die Formulare, die sie ausfüllen müssen, richten das Nervenkostüm zugrunde, die meisten seien auf Griechisch oder Englisch. Aber eben nicht auf Arabisch, wie sie gehofft hatten. Eine entwürdigende Situation sei das. Ich bin ratlos, was ich darauf erwidern kann.

„Du kommst von Mama Merkel“, rufen Kinder und drängen sich um mich, nachdem die Nachricht die Runde gemacht hat, einer von ihnen, ein Araber, sei aus Deutschland eingetroffen. „Hat dich Mama Merkel zu uns geschickt?“, fragen sie mich. In jenem Augenblick muss ich an Andrea denken, den Jungen in Brechts Stück „Leben des Galilei“, der Galileo jeden Tag die Milch bringt und ihm dabei bei seinen Berechnungen und Sternenbeobachtungen zusieht, bis es die provozierende, arglos kindliche Frage des Jungen ist, die Galileo entdecken lässt, dass die Welt eine Kugel ist. Und ich? Was habe ich entdeckt? Dass die einzige Frau, die die Herzen aller Kinder hier erobert hat, Angela Merkel ist, eine über Sechzigjährige ohne eigene Kinder. Warum sollte ich diese Kinder enttäuschen? Ich hole lieber die Süßigkeiten heraus, die ich in meinem Rucksack habe, und sage ihnen: „Diese Süßigkeiten hat mir Mama Merkel für euch mitgegeben.“

Nicht nur die Kinder träumen. Auch die jungen Männer tun es. Der junge Bartträger hat gerade sein 23. Lebensjahr vollendet, ist also in genau dem Alter, in dem ich vor vielen Jahren nach Deutschland gekommen bin, um Germanistik zu studieren. Er wirkt ruhig und beherrscht, erträgt geduldig die Kommentare seiner drei syrischen Kameraden über seinen „IS-Bart“, wie sie ihn nennen. Der junge Mann wartet, bis alle aufgehört haben zu lachen, und wendet sich dann an mich: „Sie haben mich noch gar nicht gefragt, in welches Land ich möchte.“ Ich antworte ruhig: „Gibt es denn hier ein anderes Land, in das ihr Syrer wollt, als Deutschland?“ „Da irren Sie“, erwidert der junge Syrer. „Dorthin wollten meine Freunde und ich anfangs, aber inzwischen möchte ich sie überreden, den Kompass neu auszurichten.“

Dieser Satz und das Schweigen seiner Kameraden weckt mit einem Mal meine Neugier, doch noch ehe er fortfahren kann, höre ich einen seiner Freunde sagen, er wolle sie überreden, nach Brüssel zu gehen, in die „belgische Hauptstadt“. Und das mit seinem „IS-Bart“, wie sie scherzend kommentieren. Sie hätten sich die Bärte abrasiert, erklären sie mir, einer von ihnen habe nur seinen Unterkieferbart und den Hals unrasiert gelassen, doch ihr Freund mit seinem langen Bart würde bestimmt die Blicke auf sie lenken, sodass sie am Ende noch unter dem Vorwurf des Terrorismus festgenommen würden. Sie würden nur nach Brüssel gehen, wenn er sich bereit findet, seinen Bart abzurasieren. Doch ihr Kompagnon versichert, er sei fest entschlossen, es gerade mit seinem langen Bart bis nach Brüssel zu schaffen, um den Belgiern klarzumachen, dass nicht jeder mit einem langen Bart ein Terrorist ist. Und wenn er dann die Belgier davon überzeugt hätte, dass er kein Terrorist ist, und eine Aufenthaltserlaubnis bekäme, dann erst würde er sich rasieren.

Und die Alten? Abu Muhammad, der Dorfälteste, so der Titel, den er auch hier im Lager trägt, ist ein Mann von Mitte 60, aus dessen Gesicht die Anstrengung spricht. Drei junge Männer führen mich zu ihm, zwei Syrer und ein Iraker. „Sie müssen mit Abu Muhammad sprechen“, haben sie gemeint. Die Krankheitzwingt ihn, sitzen zu bleiben. Auch sein Sehvermögen ist nicht mehr das beste. Dennoch will ersich erheben, um mich zu begrüßen. Die Krankheiten und Gebrechen, die ihn heimsuchen, muss er nicht aufzählen, der Zucker, die Bandscheibe, die Gelenke, das Herz. Sein Gesicht ist mager und blass, und die Kraft reicht nicht einmal mehr, um sich anzustellen und Hilfeleistungen in Empfang zu nehmen. Aber seine Rolle will Abu Muhammad nicht aufgeben, der Weise des Lagers, wer einen Rat braucht, eine Lösung für ein Problem, kommt zu ihm.

„Die ausländischen Journalisten sind hier bei uns bloß herumgelaufen und haben Fotos gemacht, und wenn sie etwas gesagt haben, dann nur auf Englisch, sodass wir kein Wort verstehen konnten.“ Was mich angeht, ich müsse alles aufschreiben. „Schreib“, befiehlt er und verfolgt die Bewegung meiner Hände. Also schreibe ich. „Schreib, dass alle jungen Männer hier vor dem Wehrdienst geflohen sind. Will der Westen sie tatsächlich nach Syrien und in den Irak zurückschicken? Schreib, Abu Muhammad muss in Deutschland mit einem weisen Politiker zusammentreffen.“ Warum? Um dem zu sagen, erklärt er mir, was die Wahrheit ist: dass „der Terror, der Europa erfasst hat, mit dem Waffenhandel zusammenhängt“. Westliche Waffen seien an allen Fronten im Einsatz. „Wie können wir über den Terror sprechen und zum Waffenhandel schweigen?“ Seit seiner Ankunft in Europa träumt er davon, ein Gespräch mit einem „weisen Politiker“ zu führen, der den Mut hat, dies offen auszusprechen.

Alle träumen seit der Schließung der Grenzen. Die meisten ihrer Erzählungen kreisen um die Versprechungen, die ihnen die Schmuggler undFluchthelfer gemacht haben: 3000 Euro würde jeder sofort bei der Ankunft in Deutschland erhalten, dazu eine Wohnung, ein Auto und einen Job. Die deutsche Staatsangehörigkeit würden sie nachnur drei Monaten bekommen. (Je größer die Versprechen der Schmuggler, desto höher der Preis für die Flucht!) Ob sie zu Recht sich auf den Weg gemacht haben oder nicht, ist vollkommen unwichtig. Denn wer hätte das Recht, einen Menschen am Träumen zu hindern?

„Derjenige unter euch, der keine Träume hat, möge den ersten Stein auf den werfen, der träumt!“ Ein Imperativ, der eigentlich zum Elften Gebot erhoben werden müsste. Denn die Gründe, die sie veranlasst haben, die Länder hinter sich zu lassen, die bis zu jenem Tag ihre Heimat waren, sind allesamt zweitrangig. Die Menschen, die im Lager von Idomeni festsitzen und deren Zahl um die 12.000 schwankt (einige verlassen täglich das Lager, während andere dort eintreffen) – sie sind die Einzigen, die durch den Fortbestand des Lagers zu Verlierern werden. Am Ende werden alle von der Existenz des Lagers in Idomeni und der Anwesenheit der Flüchtlinge dort profitiert haben, die Griechen und die Mazedonier genauso wie die Vereinten Nationen, die Menschenrechtsorganisationen und NGOS, alle bis auf die Flüchtlinge selbst. Sie sind die einzigen Verlierer, egal ob sie nun den Schmugglern Unsummen gezahlt oder ihr Zuhause und ihre Arbeit in ihren Ursprungsländer aufgegeben haben.

Was ihnen an Ersparnissen noch geblieben ist, geben sie aus, um auf dem Schwarzmarkt der kleinen Kioske, die überall im Lager wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, Dinge des täglichen Bedarfs zu kaufen. Und sollte die Lage dazu führen, dass sie irgendwann die Hoffnung auf eine Öffnung derGrenze verlieren, werden sie den Schmugglern, die ihnen jetzt eine Flucht per Flugzeug vom Flughafen Athen aus versprechen, 3000 Euro zahlen – der augenblickliche Tarif für einen Flug nach Wien! Alles, was ihnen jetzt noch geblieben ist: eine Handvoll Geschichten. Und sie sind glücklich, jemanden zu finden, der ihnen zuhört.

Kaum, dass man einem von ihnen ein offenes Ohr leiht, fängt er an zu erzählen, unwichtig, ob diese Geschichten alle wahr sind oder manche davon erfunden ist, die Geschichten dieser Ertrinkenden, die in ihren Schlauchbooten ja tatsächlich die Ägäis von Izmir aus überquert haben, bis sie bei einer griechischen Insel angelangt sind, die sie nicht einmal dem Namen nach kannten. Doch wie schwer und gefährlich die Überfahrt auch gewesen sein mag, wie sehr sich im Erzählen davon Wahrheit und Verfälschung vermischen, Realität und Einbildung, diese Geschichten bringen eines klar zum Ausdruck: ihren Wunsch, diese Heimsuchung zu überstehen. Das ist die einzige Wahrheit, die auf ihren Gesichtern abzulesen ist.

Was diese Menschen auch erzählen und wie verzweifelt sie erscheinen mögen, vor allem sind sie glücklich, am Leben zu sein. Schließlich sind die meisten von ihnen tatsächlich dem Tod schon von Angesicht zu Angesicht begegnet, wenn nicht in ihren Heimatländern, dann auf offener See. Unwichtig also, ob andere von ihrem Elend profitieren, Regierungen und Organisationen daraus Gewinn schlagen, denn das Einzige, was feststeht, ist, dass sie hier sind und am Leben. Und egal, wie viel Zeit vergehen wird: Sie werden weiter träumen, diese Heimsuchung eines Tages überstanden zu haben. Ihr Proviant sind die Geschichten, die sie besitzen, und ihre Freude, wenn einer ihnen Zeit zum Zuhören schenkt.

Aus dem Arabischen von Markus Lemke