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Traumstadt Bagdad – Eine erste Liebe

Wunderbar und entsetzlich – in den Sechzigern war Bagdad eine moderne Traumstadt, mit Straßenkreuzern und Casinos.

Sonja Zekri über Najem Walis neues Buch „Bagdad. Erinnerungen an eine Weltstadt“
Süddeutsche Zeitung, 12. Oktober 2014

Vater und Sohn sind glänzender Laune, der Ältere knapp dreißig, weißer Anzug, Krawatte, schmaler Schnurrbart, der Sohn sechs Jahre, gestreiftes Hemd, vor Aufregung halb tot. Folgendes ist ihr Plan für den ersten gemeinsamen Tag in der Hauptstadt: im Lieblingsplattenladen die neuesten Alben kaufen, die noch vor der Musik den Namen der Produktionsfirma abspielen. Im Buchladen Mackenzie nach neuen Ausgaben der deutschen Burda Moden schauen. Im Fotogeschäft ein Erinnerungsbild machen. Schließlich: einen Grundig-Fernseher bestellen, den das Geschäft zur Unterkunft in der Stadt und zu ihrem Auto liefert. Es ist ein gelber Chevrolet 60.

Jetzt die Eine-Million-Dollar-Frage: Von welcher Hauptstadt ist die Rede?Gut, das ist jetzt leicht, unsere Leser sind nicht blöd, steht ja alles in der Überschrift. Aber mal im Ernst: Ist das zu fassen? Ist das nicht wunderbar und entsetzlich zugleich, wie nah uns Bagdad einmal war, damals, im Mai 1962 – mal abgesehen von diesem und jenem Putsch und davon, dass auf dem Land natürlich alles deutlich anders war. Aber in Bagdad, Najem Walis Stadt der Träume, konnte man damals eine Ahnung bekommen, was nicht alles hätte werden können aus diesem Land, aus dieser Gegend, wie nah das damals lag, modisch, stylisch, auch ideologisch – Bagdad und Paris, Berlin, London. Gropius und Aalto bauten hier, Frank Lloyd Wright und Le Corbusier. Es gab Straßenkreuzer und Kasinos und Frauen in Mini-, ach was, Mikro-Röcken, die religiösen Feiertage, sogar die schiitischen Aschura-Prozessionen waren Feste für das Volk, maßvoll und nicht so blutig, und die Jugend kam ohnehin zum Flirten, kurz, man kann gar nicht genug seufzen, weil so erbärmlich wenig davon übrig ist, weil zwischen Irak und Europa heute ein Abgrund liegt, so tief wie der tiefste Grund des Euphrat.

Zurück zu den Helden dieses Tages, dem Vater, einem Taxifahrer, der seit Jahren von seinen Ausflügen nach Bagdad Postkarten schickte und damit die Sehnsucht seines Sohnes und seiner Frau nur heller entfachte. Zurück auch zu Najem, der sich die Hauptstadt jahrelang zurechtfantasierte und auf dem Höhepunkt seiner Wünsche bereits von seiner grandiosen Heimkehr träumt. Denn künftig wird er seine Freunde nicht nur damit beeindrucken, dass er mehr Dattelsorten kennt als jeder andere, eine Fähigkeit, die er seinem Großvater verdankt, der als Inspekteur der nationalen Dattelkompanie in Basra arbeitete, wo man es auf unglaubliche 624 Sorten brachte. Nein, er, Najem Wali, war in Bagdad, und dass dies der erste und letzte gemeinsame Besuch der beiden ist, weil das Auto des Vaters bei Unruhen beschädigt wird, macht den Tag nur umso kostbarer.

Am schönsten sind Najem Walis „Erinnerungen an eine Weltstadt“ immer dort, wo beides zusammenfällt, das Heranwachsen eines jungen begabten Irakers, sein Ehrgeiz, auch seine Ahnungslosigkeit und die vielen irakischen Besonderheiten. Dann spürt man den Zauber jener Tage, als die europäische Kultur auf eine jahrtausendealte arabische Tradition traf, als etwas hätte beginnen können. Und dann endete.

Anfangs lässt sich Wali für sein Buch noch von den Postkarten inspirieren, beispielsweise von einer Ansicht britischer Soldaten in kurzen Hosen, die die Iraker anfangs mindestens so amüsiert wie schockiert hatten: „Männer in kurzen Hosen! Die Beine sichtbar!“, hieß es, „hatten sie denn keine Angst vor den Wanzen und der schrecklichen Hitze?“

Aber Chronologien sind Walis Sache nicht, und manchmal bringt er den Leser auf die Palme mit den wilden Sprüngen zwischen Jahrhunderten und Kontinenten, mit einem Wasserfall von Namen arabischer Gelehrter, allesamt wichtig und bedeutsam, aber in dieser Anzahl kaum zu bewältigen. Aber dann biegt er wieder in einen eleganten Erzählstrom ein, der politische Entwicklungen in den Besonderheiten der Stadt abliest, etwa das Nacheinander der Diktaturen daran erkennt, dass Monumente, Straßen, Plätze nie lange einen Namen trugen – jeder Herrscher nannte sie anders, sogar Hymne und Flagge ließen die neuen Machthaber auswechseln. Und die prachtvolle Raschid-Straße – heute eine Meile des Schmutzes und Verfalls, damals aber die Lebensader der Hauptstadt – hieß wahlweise Chalil-Pascha-Allee, Hindenburg-Straße, Siegesstraße, Neue Straße und, wer weiß, Raschid-Straße wird sie vielleicht auch nicht ewig heißen. „Jeder glaubt, ihm werde nie geschehen, was seinen Vorgängern geschah“, schreibt Wali, „dass Erben und neue Henker folgen und die Erinnerung an ihn tilgen.“

Überhaupt verliefen Walis begeisterte Annäherung an Bagdad und die politische Verdüsterung durch den Aufstieg Saddam Husseins und der Baath-Partei in auseinanderstrebenden Linien. Wali studierte deutsche Literatur, weil er als Nicht-Baath-Mitglied an der Hochschule der Künste nicht akzeptiert wurde. Aber auch unter den Philologen waren finstere Gestalten, ostdeutsche Geheimdienstler, lateinamerikanische Folterknechte, die eine wachsende Spanisch-Abteilung besuchten, um sich über die Niederschlagung der Opposition auszutauschen. Einmal teilt Wali ein Wohnheim mit einem jungen Tunesier, der ununterbrochen deutsche Pornos schaut und ihn mit der Frage wahnsinnig macht, was genau „Muschi“ heiße. Wali, der das Wort weder bei Goethe noch bei Schiller noch bei Brecht entdeckt hatte, aber nie um einen Bluff verlegen war, erklärte mit Überzeugung: „Es heißt Haus“ und hänge mit dem Wort Moschee zusammen.

Wali war ausgehungert nach Wissen, guter Gesellschaft, bald auch: Frauen, er genoss die kleinen Freiräume in einer Gesellschaft, der Individualismus bis heute verdächtig ist. Es sind seine schönsten Jahre und die verrücktesten Passagen des Buches, voller Arrak und Literatur, ein Tanz auf dem Vulkan, als alle „betäubt waren vom verlogenen Karneval der Baath-Partei“, die sich noch links und revolutionär gab und noch nicht der grausame allmächtige Apparat späterer Jahre war.

Die Stadt lernte schneller, der Niedergang der Visionen von Fortschritt und Freiheit hatte sich längst in die Topografie eingegraben. Die Volkshalle, wo Modenschauen und Folkloreensembles auftraten, wo das Symphonieorchester Beethoven spielte, war bereits Ende der Fünfziger als „Volksgericht“ für Schnellverfahren gegen vermeintliche Verräter missbraucht worden. In den Achtzigern wurde der Saal zur Tarnung für die benachbarten Kerkerzellen. Wali selbst saß in einer davon, im Februar 1980, auch er wurde gequält und hörte, wie sich „der Klang von Flöten, Trommeln, Pauken und Tamburinen mit dem Geschrei aus den Folterkellern und mit dem Ruf des Muezzins von der kleinen Moschee mischte, die man dort gebaut hatte, um das Gefängnis zu kaschieren“.

Er wäre auch danach noch in Bagdad geblieben, aber der Krieg mit Iran brach aus und er floh, buchstäblich in letzter Sekunde. Seitdem lebt er in Deutschland, schreibt Bücher und Artikel, auch für diese Zeitung. Und endlich, zum Glück, ein Buch über seine erste Liebe.

Najem Wali Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt.
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich.
Carl Hanser Verlag, München 2015. 416 Seiten, 26 Euro. E-Book 19,99 Euro
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