Kriegsroman „Bagdad Marlboro“
Schuld und Chaos
Von Meike Feßmann
Der Tagesspiegel, 28.04.2014
Welche Schlacht? Welche Front? In seinem großen Kriegsroman „Bagdad Marlboro“ lässt der in Berlin lebende Iraker Najem Wali viele Details im Ungewissen und kommt so der Erfahrung von Soldaten erschreckend nah.
„Bagdad Marlboro“ – die Namen zweier Zigarettenmarken, irakisch die eine, amerikanisch die andere, bilden den Titel des neuen Romans von Najem Wali – einem Höllentrip durch die Kriege des Irak. Najem Wali, der 1956 in der südirakischen Hafenstadt Basra geboren wurde, zu Beginn des irakisch-iranischen Kriegs nach Deutschland floh und heute in Berlin lebt, will die Leiden der Soldaten nicht nach Nationen und Religionen gewichten. Das Credo seines Erzählgeflechts, voller Geschichten, die begonnen und abgebrochen, variiert und zu Ende gesponnen werden, ist bei aller Raffinesse denkbar schlicht: „Alle wissen, dass es in jedem Krieg um nichts anderes geht als um den Tod. (…) Es ist die einzige Wahrheit, die für alle Kriege gilt, die aber niemand offen ausspricht.“
In einer Sprache zwischen Poesie, Fabulierlust, Faktenwissen und nüchterner Proklamation einfacher, aber oft verborgener Wahrheiten schickt Wali den Leser auf eine Tour de Force. Dass sie immer wieder zur Tortur wird, hat weniger mit der Brutalität der Szenen zu tun, in dieser Hinsicht hält sich der Autor eher zurück, als mit dem Gefühl, sich auf schwankendem Boden zu bewegen. Oft weiß der Leser nicht, wo er sich befindet: in welchem der Kriege, an welcher Front? So wird er nicht nur zum Dechiffrieren gezwungen, sondern auch in eine Situation versetzt, die mit der eines Soldaten einiges gemeinsam hat.
Die epische Ruhe, mit der „Bagdad Marlboro“ beginnt, ist trügerisch. Ein Ich-Erzähler, der unter falschem Namen im Exil lebt, hebt an, von seinem Heimatland, dem Irak, zu berichten. Doch kaum ist er in Schwung, bremst er ab, fügt diese und jene Vorgeschichte ein, und schon befinden wir uns mitten in einer Geschichte, die keine der Figuren, auch der Erzähler nicht, in Gänze überblickt. Das Schicksal von vier Männern, durch ein Netzwerk unterschiedlicher Freundschaften verknüpft, strukturiert den Roman. Chaos, Zufall und Schicksal weben mit an den Begegnungen. Auch wenn sie sich gegen das Töten wehren, sind sie Opfer und Täter zugleich.
Der Erzähler, geboren in einer kleinen Stadt des westlichen Irak am Ufer des Euphrat und aufgewachsen am Ufer des Tigris in Bagdad, hat einst Tiermedizin studiert, arbeitete in einem Schlachthof und versuchte sich als Bauunternehmer. Vom Studium in den siebziger Jahren, als es noch Frauen in Miniröcken, Alkohol und Drogen gab, schwärmte er seinem geliebten Neffen vor, kurz bevor der junge Mann bei einem Attentat ums Leben kam. Obwohl er nach dem Ende des Iran-Irak-Kriegs seine große Liebe geheiratet hatte, scheiterte die Ehe. Er wollte keine Kinder in diese Welt setzen und machte seine Frau zur Bittstellerin.
Als sie nach siebenjähriger Ehe in ihr Heimatdorf zurückkehrt, kommt sie bei einem amerikanischen Bombenangriff ums Leben. Er fühlt sich schuldig, verwahrlost und verlässt den Irak schließlich in den Jahren des Chaos nach dem Sturz Saddam Husseins, als in Bagdad wild gewordene Milizen, die aufseiten der Amerikaner gegen den Irak gekämpft haben, sein Haus besetzen und ihn zu einem Mord zwingen wollen.
All dies erfahren wir erst nach und nach. Den roten Faden bildet die Geschichte des rätselhaften Amerikaners Daniel Brooks, der eines Tages in Bagdad auftauchte und nach ihm fragte, sowie das Schicksal seines Freundes, des Dichters Salmân Mâhdi. Mit ihm hat er einst im iranisch-irakischen Krieg gekämpft. Im Krieg gegen Kuwait aber konnte er in Bagdad bleiben, während der ohnehin zu Depressionen neigende Freund verstört von der Front zurückkehrte, wo er eigentlich sterben wollte.
Najem Wali breitet die Traumata seiner Figuren nicht einfach aus. Psychologisch einleuchtend werden sie verborgen und umspielt und erst durch Zufälle ans Licht geholt. Zufälle, wie sie typisch sind für einen Krieg, der auch deshalb eine Zeitenwende bezeichnet, weil er zum ersten Mal medial in Echtzeit begleitetet wurde. Anders als unbeteiligte Zuschauer laufen die Beteiligten Gefahr, auch später noch per Fernsehschirm mit der eigenen Schuld konfrontiert zu werden. Das geschieht sowohl Salmân Mâdhi als auch Daniel Brooks, zehn Jahre nachdem er den Irak verlassen hat und, zum Islam konvertiert, wieder in den USA lebt.
Die Lebenswege des Leutnants Daniel Brooks, seines freundlichen Lachens wegen „Smiley Man“ genannt, und des irakischen Dichters Salmân Mâdhi haben sich in der saudi-arabischen Wüste während der letzten Rückzugsgefechte des Krieges auf fatale Weise gekreuzt. Daniel Brooks, der keinen Ehrgeiz kannte und den Titel „Second Lieutenant“ gerne trug – sein Vater starb als solcher in Vietnam –, gehörte zu einer Versorgungseinheit. Nicht um zu töten, sondern um Freundschaften zu schließen, war er in den Krieg gezogen und auch wegen einer Leidenschaft für die Wüste, die der Großvater ihm eingepflanzt hatte.
Sein größtes Glück: mitten in der Wüste die Bibel lesen! Doch einem brutalen Major gelingt es, ihn zum Töten zu zwingen. In der Schlacht um Hafar al-Bâtin fährt Daniel Brooks mit einem Bulldozer irakische Soldaten über den Haufen und begräbt sie bei lebendigem Leib – in jenen Schützengräben, in denen sie ausgeharrt hatten, ohne zu wissen, dass der Waffenstillstand bereits unterzeichnet war. Salmân Mâhdi gehörte zu diesem Bataillon und konnte fliehen.
Doch auch er hat getötet, ohne es zu wollen. Im Chaos schoss er auf amerikanische Gefangene, die aus einem Lkw ausgebrochen waren, nachdem zuvor ein junger Sabäer, für den er sich verantwortlich fühlte, von einem Amerikaner getötet worden war. Dass einer der Gefangenen ihm zurief, „I’m David Marlboro, Salman!“, begreift er erst hinterher. So hat er auch David Barbiero, genannt der „schwarze Whitman“, erschossen, den zum Freund gewordenen Feind, mit dem er bei nächtlichen Wachdiensten Zigaretten getauscht und sich über Gedichte unterhalten hatte. Er war auch mit Daniel Brooks befreundet. „Wer an die Front geht, tötet entweder oder wird getötet“, ist einer der nüchternen Lehrsätze über den Krieg, die Najem Wali an seinen Helden durchspielt.
Salman hat von der Front immer wieder Briefe an den Erzähler geschickt. Der letzte und wichtigste, der von diesem Erlebnis am letzten Tag des Krieges erzählte, ging verloren, zusammen mit einem Notizbuch, in dem der Dichter die Träume seiner Kameraden aufgezeichnet hatte. Wochenlang in der qualvollen Enge des Schützengrabens eingepfercht, malten sich an die hundert Männer aus, was sie nach dem Krieg machen würden. Es ist dieses Paket, das Daniel Brooks dem Adressaten überreichen wollte.
Poetische Ideen und menschliche Einfühlsamkeit prägen diesen Roman ebenso wie politische Reflexionen. Najem Wali, der auch für die arabische Tageszeitung „Al-Hayat“ schreibt, hebt hervor, dass mit der Ablösung regulärer Soldaten durch die Söldner-Truppe Blackwater eine neue Art des Krieges begann, die „alle künftigen Kriege der Welt veränderte“. Und er reflektiert die Bedeutung von Whistleblowern, mit denen sich die Asymmetrie solcher Kriege auf neue Weise verschiebt. Einen „Roman für Bradley Manning“ nennt er „Bagdad Marlboro“ im Untertitel.
Nach vielen im Irak spielenden Romanen, zuletzt „Engel des Südens“ und „Jussifs Gesichter“, ist der von Hartmut Fähndrich ins Deutsche übertragene Roman Najem Walis Opus magnum. In wechselnden Tonfällen erzählt er von den Verheerungen des Krieges, von Ängsten, Traumata und Tod, vom Sterben von Soldaten und Zivilisten. Seine Fabulierlust und seine Freude an verschachtelten Konstruktionen stehen im Dienst des Themas. „Bagdad Marlboro“ ist ein Antikriegsroman, der sich mit Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues“ messen kann, auch wenn sich die Kriege der Gegenwart längst nicht mehr so einfach erzählen lassen.
Najem Wali: Bagdad Marlboro. Roman. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Hanser Verlag, München 2014. 352 Seiten, 21,90 €