Neue Zürcher Zeitung – Rezension

Die Hölle und die Geschichten

Der in Deutschland im Exil lebende Schriftsteller Najem Wali kehrt in seinen Werken immer wieder in seine irakische Heimat zurück – so auch im neu erschienenen Kriegsroman «Bagdad… Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning»
von Andras Pflitsch, 29. April 2014, NZZ

Wie ein Kehrreim durchzieht das bekannte Zitat aus Italo Calvinos «Die unsichtbaren Städte» den neuen Roman von Najem Wali. Die Hölle, hatte Calvino geschrieben, benenne nichts Zukünftiges, «was erst noch kommen wird», sondern sie sei etwas Gegenwärtiges, «die Hölle, in der wir jeden Tag leben, die wir durch unser Zusammensein bilden».

Am Anfang von «Bagdad . . . Marlboro» steht eine Begegnung, die das Leben des Erzählers vollständig verändern soll. Kurz nachdem die amerikanischen Truppen im April 2003 in die irakische Hauptstadt Bagdad eingezogen sind, nimmt der US-Soldat Daniel Brooks Kontakt mit ihm auf, ein Veteran des vorangegangenen Kuwait-Krieges. Damals, im Frühjahr 1991, hatte Brooks die Aufzeichnungen des Dichters Salmân Mâdi gefunden, darunter einen an den Erzähler adressierten Brief. Der Erzähler wiederum hatte Salmân in den achtziger Jahren kennengelernt, als der irakisch-iranische Krieg in vollem Gange war. Nachdem sich die Wege der beiden Freunde getrennt hatten, schrieb Salmân dem Erzähler regelmässig. Der letzte dieser Briefe ging verloren, und dieser ist es, der über Umwege an Daniel Brooks und mit ihm 2003 zum Adressaten und Erzähler nach Bagdad gelangt.

Beunruhigende Doppelbödigkeit

All das hängt irgendwie zusammen, wie die gleich russischen Puppen verschachtelten Kriege und die Schicksale der unter ihnen leidenden Menschen. Wie in seinen früheren Romanen «Die Reise nach Tell al-Lahm» (2004), «Jussifs Gesichter» (2008) und «Engel des Südens» (2011) verflicht Wali auch dieses Mal seine Geschichten derart vertrackt ineinander, dass eine beunruhigende Doppelbödigkeit entsteht, die alles Gesagte unter Vorbehalt stellt. Dass man als Leser nie so ganz genau weiss, was vor sich geht, unterstreicht die tiefgreifende Verunsicherung seiner Protagonisten. Genau wie diese ist man aufgeschmissen, und erst allmählich lichten sich die Nebel.

Von Salmân erfahren wir, wie er gebrochen aus dem Kuwait-Krieg zurückkehrt. Die Hoffnung seiner Mutter, seine Depression sei bloss eine «vorüberziehende Sommerwolke», erfüllt sich nicht. Die Stunden und Tage, in denen er mit seinen Kameraden im Schützengraben von Feinden eingekesselt gewesen war, sind «noch völlig gegenwärtig». Nachts liegt er als Gefangener seines Traumas mit aufgerissenen Augen wach oder hat Albträume. Drei Selbstmordversuche misslingen ebenso wie ein seltener Versuch, über das Erlebte zu sprechen. Es gibt für ihn nichts Schlimmeres als die Stille, gegen die Tag und Nacht das Radio läuft. «Jede Minute, die verging, jede Sekunde, die verstrich, jeder Schlag seines Herzens, jeder Atemzug, den er tat, alles wurde zur Qual.» Sein Leben dreht sich um einen blinden Fleck, einen zentralen Schmerz, der unaussprechlich bleiben muss und eingekapselt in ihm überlebt. Als der Erzähler seinen Freund nach langer Zeit wiedersieht, überschüttet der ihn mit «unzähligen Geschichten, als wollte er damit all diese Jahre wettmachen, während deren wir uns nicht sahen, als wollte er – aber das erfuhr ich erst später – durch all diese Geschichten eine einzige Geschichte vermeiden».

Daniel Brooks ergeht es nicht besser. Als stolzes Mitglied der Marines und Sohn eines Vietnam-Veteranen dient er einige Jahre in Saudiarabien. Er hat eine Schwäche für die Wüste und die Souks, lernt in seiner Freizeit Arabisch und steckt die Kameraden mit einer unerschütterlich guten Laune an. Im Kuwait-Krieg wird er dann von seinem Vorgesetzten zu einer grauenvollen Tat gezwungen und verzweifelt fortan an seinen Schuldgefühlen. Erst als er eine Irakerin kennenlernt, die selber schwer an ihrer Vergangenheit trägt, zeigt sich ein möglicher Ausweg. Sie schaffen es, «sich gegenseitig beim Vergessen zu helfen», und leben zehn Jahre lang glücklich in New York, bis ihn die Vergangenheit im April 2003 einholt, als er den Einmarsch der Marines in Bagdad im Fernsehen verfolgt. Ihn «überkam ein Würgegefühl, er begann an allen Gliedern zu zittern, ihm wurde kalt, er sass da wie gelähmt, unfähig aufzustehen». Brooks beschliesst, nach Bagdad zu reisen, um den Adressaten des Briefes von Salmân zu suchen. Die Kreise schliessen sich.

Najem Wali beschreibt eine von Schuld und Gewalt durchtränkte, von Traumata gelähmte und innerlich zersetzte Gesellschaft. Es geht um die unzumutbaren Zumutungen des Krieges, unter dessen Bedingungen schon das nackte Überleben «eine enorme Leistung» darstellt. Zugleich erzählt der Roman vom Erzählen, von seinen Möglichkeiten und Grenzen. «All das Grauen und Entsetzen, die nackte Angst», weiss sein Erzähler, «dieses Inferno ist unerzählbar. Keine Phantasie kann sich den Schmerz vorstellen, der einen in Augenblicken packt, da man dem Tod und der Zerstörung auf Gedeih und Verderb ausgeliefert ist.» Dieser Einschränkung zum Trotz besteht für Wali kein Zweifel, dass der Weg aus der lähmenden Sprachlosigkeit angesichts erlebter und verschuldeter Grausamkeiten nur über das Erzählen führt.

Finale Volte

In einer für den Autor typischen metafiktionalen Volte verknüpft er dann im «Abrundung» überschriebenen Schlusskapitel Fiktion und Wirklichkeit. Der Erzähler wird zum Beobachter im Prozess gegen den US-Soldaten Bradley Manning, der im Juli 2013 wegen Geheimnisverrats zu 35 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ein mit dem Erzähler befreundeter Schriftsteller namens Harûn Wâli habe ihn ermutigt zum Prozess zu reisen. «Damit er in seiner Zelle nicht das Gefühl hat, alleingelassen zu sein, musst du ihm diese Geschichte von vorne bis hinten erzählen.» Anwesend werde auch der mit ihm, Harûn Wâli, bekannte deutsche Journalist Sebastian Fischer vom Nachrichtenmagazin «Der Spiegel» sein. Der Autor wiederum bittet in seiner dem Roman nachgestellten Danksagung den «Spiegel»-Korrespondenten Sebastian Fischer um Verzeihung dafür, «dass ich es während des Prozesses vermied, mit ihm zu sprechen. Ich wollte keinerlei Aufmerksamkeit auf mich ziehen und von niemandem erkannt werden.» Autor und Erzähler verschwimmen so ineinander, und die Geschichte kommt zu sich selbst. Die Hölle ist tatsächlich etwas verstörend Gegenwärtiges.

Najem Wali: Bagdad . . . Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning. Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Hanser-Verlag, München 2014. 350 S.