Von Fatwas und anderen Teufeln

Die Meinungsfreiheit muss verteidigt werden. Was für einen Preis Salman Rushdie und andere Autoren dafür gezahlt haben!

Ein Gastbeitrag von Najem Wali in der FAZ
27. August 2022
Deprimierend nennt der Nobelpreisträger Orhan Pamuk die Situation, in der sich Literaten und Verfechter der Meinungsfreiheit heute befinden. In der Tat, Pamuks Bezeichnung, die man in einem Artikel über das Attentat auf Salman Rushdie in La Point nachlesen kann, ist zutreffend. Zählt man die Attentate und Angriffe auf Schriftsteller, Künstler und Journalisten, wird man sprachlos. Wer dachte, der Raum für das freie Wort würde größer, hat sich getäuscht. Das Gegenteil ist der Fall. Die Meinungsfreiheit schrumpft. Tabubrechende Werke, die sich kritisch mit Religion oder Despoten auseinandergesetzt haben und bis vor zwei Jahrzehnten gedruckt werden konnten, würden heute kaum mehr einen Verlag oder eine Plattform finden. Solange Fatwas und Hassprediger herumgeistern, wird die Lage immer bedrohlicher. Denn es gibt immer Fanatiker, die bereit sind Fatwas und Rufmorde in die Tat umzusetzen. Es ist wie ein Krieg zwischen Geist und Glauben. Religion wie Politik braucht Überzeugung. Die Literatur aber lebt vom Zweifel. Leider gibt es eine große Zahl jener, die kein Zweifel im Raum lassen wollen. Betrachtet man die Zahl der Opfer von Fatwas, stellt man fest, wie gefährlich es für diejenigen ist und war, die das freie Wort und die Freiheit der Kunst verteidigen. Schon viele bezahlten mit ihrem Leben dafür.

Den ganzen Artikel lesen Sie hier: FAZ_Chronik der Fatwas

Wie man zum Geächteten wird

Es ist viel die Rede von Fortschritten im Nahost-Friedensprozess, doch gerade unter arabischen Intellektuellen wird weiter gegen Israel gehetzt. Und gegen alle, die für eine Normalisierung eintreten.

Essay von Najem Wali, F.A.Z am 23. Januar 2021

Ende dieses Monats ist es zehn Jahre her, dass arabische Jugendliche auf die Straßen gingen. Seitdem hat sich vieles in der Region verändert, Regime sind gestürzt, Wahlen haben stattgefunden. Nur eines hat sich keinen Millimeter bewegt: die sture Antinormalisierungshaltung gegenüber Israel, die bei der Mehrheit der arabischen Intellektuellen Tradition und insbesondere bei der älteren, aber in der Kulturszene dominanten Generation ihren festen Platz hat.

Fangen wir mit einem berühmten Fall an: Ende 2010, nur wenige Wochen vor dem Kairoer Frühling, gab das Israelisch-palästinensische Zentrum für Forschung und Information (IPCRI) bekannt, dass es seinen hebräischen Lesern das seltene Privileg bieten wolle, einen damals vieldiskutierten ägyptischen Roman zu lesen. Als dessen Autor sich weigerte, das Buch ins Hebräische übersetzen und in Israel veröffentlichen zu lassen, übernahm ein Freiwilliger die Übersetzung, und das IPCRI wollte sie kostenlos anbieten, um das kulturelle Bewusstsein und das wechselseitige Verständnis in der Region zu erweitern. Der Autor war aufgrund seiner Haltung zu Israel darüber zutiefst frustriert. Er beschuldigte das IPCRI und den Übersetzer der Piraterie und des Diebstahls und reichte eine Beschwerde bei der International Publishers Association ein. Sein gutes Recht. Aber was bedeutet seine gegen jede Normalisierung des arabisch-israelischen Verhältnisses gerichtete Handlung?

Hella Mewis ist wieder frei!

Nach fünf Tagen im Schockzustand über Hella Mewis‘ Entführung, fünf Tagen des angespannten Wartens und der Sorge, nun einmal eine freudige Nachricht aus Bagdad: Hella Mewis ist wieder frei! Welche Bedeutung hat ihre Arbeit für die jungen Künstler vor Ort?

Ein Gastbeitrag von Najem Wali,  SPIEGEL online, 25. Juli 2020

Irakische Kulturszene
Auf den ersten Blick herrscht heute Demokratie
Ich kenne Hella Mewis, diese wunderbare Frau, seit 2011, als sie von Kairo nach Bagdad kam, sich in die Stadt verliebte und beschloss, allen Gefahren zum Trotz, zu bleiben. Im Jahr 2015 eröffnete sie dort das „Bait Tarkib“ („Haus der Gestaltung“), ein Zentrum für junge Künstler.

Im Frühling 2014 veranstaltete sie mit mir in der Ruine des ehemaligen Gerichtsgebäudes in der Mutanabbi-Straße die erste Lesung aus meinem Roman „Bagdad Marlboro“, in Deutsch und Arabisch. Ich weiß noch, wie sie auf dem Weg dorthin wegen des dichten Verkehrs aus dem Taxi steigen und zu Fuß weitergehen wollte. Aus Sorge um sie zögerte ich zunächst, denn wir mussten durch ein ärmeres Viertel mit engen Gassen. Doch zu meiner Überraschung kannten die Menschen sie dort. Alte Leute, die vor ihren Häusern in der Sonne saßen, standen auf und begrüßten sie: „Willkommen, Madame!“ In fast allen Bagdader Geschäften und Klubs war Hella bekannt und respektiert. „Sie brauchen keinen Ausweis, Hella ist Ihre ID“, hieß es in meine Richtung von sämtlichen Wachleuten.

Saddam Husseins Irak hat mit Corona-Deutschland nichts zu tun. Warum suchen mich dann die Erinnerungen heim?

Wir werden aus diesem globalen Gesundheitsproblem irgendwann mit großen Verlusten herauskommen. Aber die Gesundheit der Welt als Welt bleibt trotzdem in Gefahr. Corona ist ein Test, der täglich die Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Welt offenbart.

Ein Kommentar von Najem Wali in der Süddeutschen Zeitung von 22. April 2020

Ich kenne die Aufrufe. Hüte dich vor dem anderen, dem Fremden. Gehe nicht auf ihn zu, bleibe zu Hause, Tage und Wochen. Und wenn du hinausgehst, sei vorsichtig. Jeder auf der Straße kann gefährlich sein. Meide Freunde und Bekannte, damit sie nicht mit dir in Verbindung gebracht werden können. Du willst nicht, dass sie enden wie du.

Je geringer eure Anzahl ist, desto weniger Gefahr droht euch. Jede Versammlung von mehr als zwei Personen ist gefährlich. Manchmal weckt schon mehr als eine Person Misstrauen. Wenn ihr euch in einem Privathaus oder in einem geschlossenen Klub trefft, müsst ihr damit rechen, dass die Polizei das Haus stürmt, Türen demoliert, euch anschreit, auseinandertreibt oder festnimmt.

Beginnt so die echte Intifada der Frauen?

In seinem Roman Saras Stunde erzählt Najem Wali von einem Aufstand der Frauen in Saudi-Arabien. Nun scheint die Wirklichkeit seine Fiktion einzuholen.

Najem Wali im Feuillton der FAZ, 19. Juni 2018
CoverSARAarabFinal
„(…) Als ich anfing, den Roman „Saras Stunde“ zu schreiben, begannen Fiktion und Fakten sich zu vermischen. Meine Sara – die Frau, deren Geschichte ich schrieb – ist teilweise realistisch gestaltet, aber sie enthält auch viel Fiktion, weil diese Sara ein Gesamtbild aller Frauen, die ich getroffen und deren Geschichten ich gehört habe, verkörpern sollte: Sie sind Frauen mit einem Körper aus Glas im Kampf gegen Stein in Saudi-Arabien, dem Königreich der Finsternis. In einem solchen Land, in dem die Wirklichkeit selbst grotesk und surreal ist, in dem eine Behörde tatsächlich den Namen „Behörde für die Verbreitung der Tugendhaftigkeit und für die Verhinderung von Lastern“ trägt, wo es Frauen nicht erlaubt ist, ihr Gesicht zu zeigen, Auto zu fahren, ein eigenes Konto einzurichten, über eine Kreditkarte zu verfügen und ohne Begleitung eines männlichen Verwandten (mindestens) zweiten Grades ins Ausland zu reisen oder einen Mann aus einfachen Verhältnissen zu lieben, zu heiraten, in einem derartigen Land kann Realismus nicht die Sprache der Literatur sein. Es muss in phantastischer Form erzählt werden. Nicht nur über diese eine junge Frau namens Sara, die den Aufstand wagt, sondern auch über andere Frauen, die so sind wie sie. Die Geschichte wird zu einer Art Märchen, das mit einem Mord als einzig denkbare Lösung beginnt und mit einer Intifada von Frauen endet.
Seit dem 19. Mai 2018 ist die in „Saras Stunde“ erfundene Intifada der Frauen keine Fiktion mehr. An diesem Tag berichteten Nachrichtenagenturen von der Verhaftung mehrerer Frauen in Saudi- Arabien, darunter: Loujain al-Hathloul, Iman al-Nafjan und Azziza al-Youssef. (…)“ Den ganzen Artikel lesen Sie HIER

Die Fatwa ist passé

Wie wäre es, wenn der Iran die Fatwa gegen Rushdie annulierte? Najem Wali in der iranischen Botschaft.

Von Najem Wali
Süddeutsche Zeitung, 24. Mai 2018
Seit geraumer ZeitSeit geraumer Zeit schon trug ich mich mit der Idee, und seit sich die Fronten verhärteten, ja den ganzen Weltfrieden in Gefahr gebracht haben, wurde es Zeit zu handeln. Ich musste den iranischen Botschafter in Berlin treffen, ihn überzeugen, ohne dass er mich für einen Wahnsinnigen hält, und er musste die Idee an seine Regierung in Teheran weiterleiten: Iran soll die Fatwa gegen Salman Rushdie aufheben.

Doch wie anfangen? Ich beschloss, erst einmal den irakischen Botschafter aufzusuchen. Nur er konnte mir einen Termin bei seinem iranischen Amtskollegen verschaffen. Die Beziehungen zwischen Bagdad und Teheran sind derzeit sehr eng. Außerdem sind die Botschaften in Berlin fast Nachbarn. Der irakische Botschafter enttäuschte mich nicht und organisierte den Termin, obwohl ich ihm nicht einmal verraten hatte, worum es ging. Nur das erfuhr er von mir: Ich wollte einen Vorschlag beim iranischen Botschafter vorbringen, einen Vorschlag kultureller Natur.

Viel Zoff mit einem surrealen Präsidenten

Mit einem Dekret wollte mir Donald Trump eine Religion zuweisen, zu der ich keine Beziehung habe. Und er wollte mich auch gleich noch zu einem Terroristen machen. Die US-Justiz hat den Wahnsinn – vorerst – gestoppt.

von Najem Wali
erschienen in DIE PRESSE, 8. Februar 2017

Zum ersten Mal stelle ich nun fest, ohne dass ich es vorher wusste, dass ich angeblich Muslim und Terrorist bin. Mir wollte der neue US-Präsident nicht mehr erlauben, nach Amerika einzureisen. Ein verrückter Staatspräsident will festlegen, wer Muslim und Terrorist ist und wer nicht. Das ist der größte Witz des 21. Jahrhunderts, wenn nicht gar aller Zeiten. Die amerikanische Justiz hat den Wahnsinn – vorerst – gestoppt. Diese Woche wollte ich nach New York fliegen. Ich war spät dran, normalerweise besuche ich New York jedes Jahr im Dezember. Ich verbringe dort Neujahr und kehre Mitte Jänner wieder zurück, das ist in den letzten Jahren für mich so Tradition geworden. Letztes Mal waren ich und meine gute Freundin zwei Monate in der Stadt, ich habe dort viele Freunde: Schriftsteller, Journalisten und UNO-Angestellte. Ich erinnere mich, dass wir letztes Mal in der Wohnung der dänisch-amerikanischen Schriftstellerin Janne Teller im Viertel Little Italy bis spät in die Nacht feierten und dänischen Punsch tranken.

Das Haus der Träume in Bagdad

Ein geschichtsträchtiges Gebäude ist vom Abriss bedroht. Dank seines Erbauers steht es für einen multikulturellen Irak – also für das, was die Scharfmacher im Land heute vergessen machen wollen.

von Najem Wali

Fast hundert Jahre ist es alt. Der Bagdader Baumeister Sayyed Ka- zim bin Arif, einer der berühmtesten seiner Zunft, hat es errichtet. Alles an diesem Haus ist schön: die Rundbögen, die Zimmertüren, die Balustraden auf dem Flachdach, die hölzernen Fenster, der ausladende Balkon hoch über dem Tigris. Es wirkt fast, als habe die Hand des Meisters hier, von der historischen Al-Raschid-Straße aus leicht zurückgesetzt, Stein auf Stein sanft gestreichelt und liebevoll geformt, als habe sie gewusst, dass sie nicht nur ein Haus für einen Mann aus einer alteingesessenen Bagdader Handelsfamilie erbaute, die bekannt für ihren Reichtum war, sondern vor allem einen Ort schuf, der Träumen angemessen sein musste. Dass es so viele Räume und Etagen umfassen musste wie die Träume des Mannes, der darin schlafen und erwachen würde.

All die Jahre, die ich bis zu meiner Flucht am 28. Oktober 1980 ins Exil nach Deutschland in Bagdad lebte, hoffte ich, dieses Haus einmal betreten zu können. Mehr noch als sein Aussehen reizten mich die Geschichten, die man sich von der Privatbibliothek des Hausherrn erzählte. Es hieß, seine Bücher hätten so gut wie alle Zimmer des Hauses eingenommen, es sei die größte Privatbibliothek gewesen, die Bagdad je gekannt habe: Bücher in zahlreichen Sprachen, auf Arabisch und Türkisch, auf Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Deutsch, all jenen Sprachen, die der Hausherr las und schrieb. Bedauerlicherweise sind die meisten dieser Bücher wohl verloren gegangen, als die Ba’ath-Regierung 1970 im Zuge ihrer Hinrichtungswelle gegen Juden und Oppositionelle sich der Bi- bliothek bemächtigte. Zwar hieß es, die Bestände seien in die Sammlung des Irakischen Nationalmuseums gewandert, doch habe ich bei all meinen Besuchen dort nicht eines davon auffinden können.

Den ganzen Artikel lesen Sie HIER: Das Haus der Träume in Bagdad
erschienen im Feuilleton der FAZ am 17. August 2016 

Paris, Brüssel, Bagdad, Nizza: Terrorangriffe gegen das Leben

Die Anschläge trafen Orte, an denen junge Leute und Familien das Leben feiern. Der Wahhabismus sollte auf die Terrorliste der UN gesetzt werden.

von Najem Wali
TAZ am 20. Juli 2016

Eine weitere blutige Samstagnacht. Fast könnte man meinen, die Attentäter von Anfang Juli im Irak hätten zwei Hauptstädte vereinen wollen: Paris und Bagdad, zwei Hauptstädte, die Tausende von Kilometern trennen und die jetzt in Unglück und Blut vereint sind. 130 Tote und 383 Verletzte, so die Schreckensbilanz der Angriffe von Paris, 250 Tote und mehr als 220 Verletzte, dies das fürchterliche Ergebnis des Anschlags von Bagdad. Und das, bevor die Terroristen 12 Tage später einen weiteren blutigen Anschlag ausübten. Diesmal in Nizza, Bilanz: 85 Tote, zahlreiche Verletzen, Tendenz steigend.

Terror, Tod und Morde sind schwer miteinander zu vergleichen. Aber was sich in der Samstagnacht des 2. Juli in Bagdad ereignet hat, zwei Tage vor Ende des Fastenmonats Ramadan, quasi als Feiertagsgeschenk an die Iraker, muss uns andere blutige Ereignisse in Erinnerung rufen, die andere Städte auf der Welt heimgesucht haben, an erster Stelle Paris. Noch bevor der Anschlag in Nizza erfolgte, oder der Anschlag von Brüssel zuvor.

Und das nicht nur, weil der Anschlag von Bagdad der bislang schwerste in diesem Jahr war, und nicht nur aufgrund der Vielzahl von Opfern, die zumeist sehr jung und in ihren Zwanzigern waren, oder der Läden und Fahrzeuge, die in der Nähe des Explosionsortes in Flammen aufgingen, sondern vor allem wegen des von den Tätern gewählten Ziels: das Stadtviertel Karrada mit seiner von Einkaufspassagen gesäumten Hauptstraße.

Hier befindet sich eine der größten Shoppingmalls von Bagdad, das Al-Laith-Center, eine dreigeschossige Passage nach europäischem oder amerikanischem Vorbild. Sie war immer gut besucht und beherbergte ein internationales Angebot an Markenartikeln, ausgefallene Boutiquen, Parfümerien, Geschäfte für Haushaltsartikel, Taschen, Schuhe – einfach alles, wonach das Herz begehrt, Spielmöglichkeiten für Kinder und eine Vielzahl moderner Restaurants und Cafés inbegriffen.

Plastiksprengstoff des „IS“
Die verheerend große Zahl von Opfern in Bagdad nimmt von daher nicht Wunder. Sie fielen dem sogenannten C4-Sprengstoff zum Opfer, ein Plastiksprengstoff, von dem die Terroristen bei ihrer Schreckenstat mutmaßlich eine halbe Tonne verwendeten.

Literaturwerkstatt im Irak

Die schreibenden Frauen von Basra

Im Erzählen liegt die Rettung vor der Alltagskatastrophe: In einer Schreibwerkstatt im Irak verwandeln 25 Frauen verschiedener Herkunft das Unterdrückte in Geschichten.
Von NAJEM WALI

Die schreibenden Frauen von Basra
Die schreibenden Frauen von Basra, Juni 2016

Ein Prosaworkshop? Für Frauen in Basra? Meine letzte Reise in die irakische Hafenstadt lag schon zwei Jahre zurück, und ich erwartete nicht, dass sie sich positiv entwickelt hätte. Im Gegenteil, die Nachrichten von dort verhießen nichts Gutes, sei es, was die Zerstörung der Infrastruktur in den letzten Jahren anbetraf, sei es in Bezug auf den Niedergang staatlicher Autorität, das Nichtfunktionieren der Verwaltung oder die allgegenwärtige Korruption – die traditionelle Macht der Clans und den ausufernden Waffenbesitz nicht zu vergessen. Hinzu kommen die Ehrenmorde, denen jedes Jahr Dutzende von Frauen zum Opfer fallen. Unter derartigen Umständen also wollten beherzte deutsche Suffragetten dort eine Prosawerkstatt organisieren. Unter der Leitung eines Mannes. Ich nahm die Herausforderung an.
Den ganzen Artikel, erschienen in der FAZ, können Sie hier lesen: FAZ, Die schreibenden Frauen von Basra

Molenbeek als Chance

Kürzlich reiste Najem Wali nach Brüssel, um im «Problemquartier» Molenbeek zwei Lesungen zu geben. Für ihn haben Brüssel und Bagdad mehr als nur den Anfangsbuchstaben B gemeinsam. 

von Najem Wali
Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 2016

Schon auf dem Flug wurde klar, dass dies keine Reise war wie alle anderen. Die Zahl der leeren Plätze und die angespannten Gesichter der Passagiere liessen ahnen, dass man sich nicht mehr so einfach in ein Flugzeug nach Brüssel setzt. Und ich als Iraker denke bei einer solchen Gelegenheit unweigerlich an Bagdad. Es ist noch nicht lange her, dass die beiden Städte nur einen einzigen Buchstaben gemeinsam hatten. B. Wie Brüssel. Wie Bagdad. Das ist immer noch so. Aber der Buchstabe hat jetzt noch eine weitere Bedeutung: Bombe.P1050087

Nichts ist, wie es war
Kommt man in Brüssel an, ist nichts mehr wie zuvor. Statt in der grossen Flugzeughalle müssen die Passagiere vor einem Eingang bei den Parkplätzen warten, und von dort haben sie eine lange Strecke bis zur Haltestelle des Zuges zurückzulegen. Im Flughafen wie auch bei den Eingängen der Bahnstation und des Brüsseler Bahnhofs sind Soldaten mit Maschinengewehren postiert. In den Strassen zirkulieren Militärfahrzeuge in grosser Zahl, die Brüssel den Anstrich einer Stadt im Kriegszustand geben – besonders wenn man realisiert, wo diese Fahrzeuge früher im Einsatz waren. Es sind Jeeps der Kfor-Schutztruppen, die nach dem Kosovokrieg für Sicherheit im Konfliktgebiet sorgen sollten; die Lettern auf den Türen der Fahrzeuge sind noch immer kenntlich und scheinen jedem Versuch, sie zu entfernen, erfolgreich widerstanden zu haben.

Idomeni: Begegnungen an der griechisch-mazedonischen Grenze

Die Frau, die mich schätzen lässt, wie alt sie ist. Der 23-Jährige, der den Belgiern beweisen will, dass sich nicht hinter jedem langen Bart ein Terrorist versteckt. Der Alte, der mit einem „weisen Politiker“ über den Waffenhandel sprechen möchte. 

von Najem Wali, Mai 2016

Die Kleinstadt Polikastro, in der Präfektur Kilkis, Zentralmakedonien, im Norden Griechenlands gelegen, hatte bis vor Kurzem noch um ihren Platz auf der Landkarte zu kämpfen, da sie das Los aller Provinzstädte teilte: Die jungen Leute zogen weg, denn es fehlte an Jobangeboten. Inzwischen jedoch sieht die Situation ganz anders aus, da das Städtchen zu einer wichtigen Transitstation mutiert ist. Bis auf den Militärfriedhof für die im Zweiten Weltkrieg gefallenen britischen Soldaten, der, wie alle anderen Militärfriedhöfe des Vereinigten Königreichs auf der ganzen Welt auch, an einen prachtvollen englischen Garten erinnert, hatte das Städtchen nichts, was es zu einer Attraktion für Besucher hätte machen können. Dies zumindest war der Stand der Dinge, bis die Republik Mazedonien seine Grenze zu Griechenland für Flüchtlinge auf ihrem Weg nach Nordeuropa abriegelte.

Der Grenzübergang Idomeni zwischen Griechenland und Mazedonien ist ein Dorf mit knapp 300 Einwohnern, von denen die meisten in der Landwirtschaft arbeiten. Zur Zeit meiner Ankunft bestand von dort keine direkte Verbindung mehr zu den übrigenStädten Griechenlands, da der Zugverkehr, der Idomeni anbindet, eingestellt war, nachdem die Flüchtlinge ihre Zelte auf den Schienen errichtet hatten. Wer also etwas mit dem Flüchtlingslager in Idomeni zu tun hatte, von Berufs wegen oder als Besucher, musste sich eine andere Unterkunft suchen, und was wäre dafür eher in Frage gekommen als das Städtchen Polikastro, das nur zwölf Kilometer von Idomeni entfernt liegt?

Im Kopf des Terrors

Nach Paris. Nach Brüssel. Mit Herostratos im Kopf, mit Sartre in der Tasche: Versuch einer Reise zum Jihad, seinen Gesichtern und Motiven.


Die Presse

Am 18. November 2015, fünf Tage nach den Anschlägen von Paris, einer Serie koordinierter Terrorangriffe mit gezieltem, wahllosem Feuer aus automatischen Waffen, Selbstmordexplosionen und Geiselnahmen im 10. und 11. Arrondissement, im Theater Bataclan und in der Rue Bichat, der Rue de la Fontaine au Roi und der Rue de Charonne, und gleich nach der Verlautbarung der französischen Behörden, der mutmaßliche Drahtzieher der Anschläge, ein Belgier mit marokkanischen Wurzeln, sei bei den Polizeirazzien im Pariser Vorort Saint-Denis getötet worden,fühlte ich mich stark an Herostrat erinnert. Doch in erster Linie nicht an den altgriechischen Brandstifter Herostratos, der im vierten Jahrhundert vor Christi lebte und durch die Zerstörung des Artemis-Tempels von Ephesus, eines der sieben Weltwunder der Antike, zu unsterblicher Berühmtheit gelangen wollte, sondern ich musste an jene Erzählung gleichnamigen Titels des Existenzphilosophen Jean-Paul Sartre denken, eine der fünf in dem Band „Le Mur“ (Paris 1939) versammelten Novellen.

Die Erzählung, die erstmals 1950 in deutscherÜbersetzung erschien und die ich ursprünglich Anfang der Siebzigerjahre auf Arabisch gelesen hatte (übersetzt von Hashim al-Husseini), handelt von Paul Hilbert, einem kleinen Angestellten, ledig, der in einer Handelsfirma arbeitet und allein in einer Pariser Wohnung im sechsten Stock eines allem Anschein nach neu errichteten Wohnhauses lebt. Wobei die Höhe hier von Bedeutung ist, denn die Erzählung setzt auf dem Balkon der Wohnung ein. „Die Menschen muss man von oben sehen“, mit diesem Satz beginnt der Held der Erzählung seine Geschichte, um uns darüber ins Bild zu setzen, wie diese Höhe, in der er sich befindet, ihn in den Stand versetzt, Menschen und Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu sehen, was ihn ein Gefühl der Überlegenheit empfinden lässt.

Im Osten nichts Neues

Kulturdebatte im SPIEGEL

Der syrische Dichter Adonis soll den Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück bekommen. Was für ein Irrtum.
Von Najem Wali

Eigentlich sollte der Dichter Adonis am kommenden Freitag den Erich- Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück verliehen bekommen. Die Entscheidung hatte eine Debatte ausgelöst, die sich lange ausschließlich um die Frage drehte, ob der Dichter nun ob seiner uneindeutigen Haltung gegenüber dem Diktator Baschar al-Assad den Preis verdient habe oder nicht. Die Fragen, was Adonis mit Remarque verbindet und ob es wirklich Gemeinsamkeiten gibt in den Schriften und Taten der beiden, spielten keine Rolle. Und auch nicht, was der Dichter sonst so schreibt und denkt und sagt. Dabei geht es um mehr als nur um seine Haltung gegenüber einem Diktator.

„Dank dem Erzählen leben wir“

Najem Wali plädiert für die Macht der Literatur

Kann Literatur die Welt besser machen, kann eine schöne Erzählung ein Leben retten? Nein, meinen Skeptiker. Der irakische Schriftsteller Najem Wali versucht den Gegenbeweis.
Neue Zürcher Zeitung, 25. November 2015

Mein Vater pflegte mit Stolz zu erzählen, dass der erste Film, den er in seinem Leben sah, die Adaption von Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues» war. Er war damals noch ein Knabe, doch der Kinobesuch hat in seinem Leben eine bleibende Spur hinterlassen. Jahre später, als er ins wehrpflichtige Alter kam, hatte er die Wahl, entweder den Militärdienst zu absolvieren oder sich mit einer fixen Summe freizukaufen; obwohl seine Familie einen Kredit aufnehmen musste, um den Wehrpflichtersatz zu bezahlen, wählte er diese Option. Er habe ganz einfach keine Uniform tragen wollen, erzählte er mir später, und zunächst habe er nicht einmal realisiert, dass er mit diesem Entscheid den Einsichten Paul Bäumers, des Protagonisten von «Im Westen nichts Neues», gefolgt sei.

Macht und Ohnmacht
Ich glaube, mein Vater war nicht der Einzige, dem Remarque das Grauen vor dem Krieg und den Hass auf die Uniform eingeimpft hat; weltweit mögen Tausende die Botschaft von Buch oder Film vernommen und verstanden haben. Was nun, wenn die ganze Welt «Im Westen nichts Neues» lesen und beschliessen würde, den Kriegsdienst zu verweigern? Hätte dann nicht das Erzählen die Welt gerettet?

Krieg und Revolution? Nein danke!

Die einen beschäftigen sich mit den politischen Konflikten der Vergangenheit, die anderen wollen davon nichts mehr hören: Wie sich das Selbstbild der Schriftsteller in Guatemala, El Salvador und Nicaragua wandelt

von Najem Wali
erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
Samstag, 14. November 2015

In seiner Rede anlässlich der Verleihung des Literaturnobelpreises 1982 sprach Gabriel García Márquez über „die Einsamkeit Lateinamerikas“. Gut dreißig Jahre zuvor hatte ein anderer Nobelpreisträger, der Mexikaner Octavio Paz, über das „Labyrinth der (mexikanischen) Einsamkeit“ geschrieben.

„Einsamkeit“ scheint das Lieblingswort lateinamerikanischer Literaten zu sein. Und das trifft auch auf die Stimmung in den Ländern Zentralamerikas zu – mit Ausnahme von Costa Rica vielleicht, weil dieses Land für sich selbst den Mythos erschaffen hat, die „Schweiz Lateinamerikas“ zu sein. Seine Bewohner sollen einer jüngst veröffentlichten Statistik zufolge das glücklichste Volk der Welt sein, und es ist das einzige Land der Region, das weder Militärdiktaturen noch Bürgerkriege erleiden musste, ja nicht einmal eine eigene Armee hat. „In Zentralamerika stößt man doch täglich noch auf einen wahren Schatz an Geschichten!“, wie mir ein Schriftsteller aus Uruguay versicherte, der die Buchmesse in San José besucht hat. Seine Aussage entspricht der Wahrheit. In Ländern wie Guatemala, El Salvador, Honduras und Nicaragua zu leben ist eine Herausforderung. Nicht zuletzt darum ist die Literatur dieser Länder von Politik und der Auseinandersetzung mit der staatlichen Obrigkeit geprägt.

Bis zum Ende der achtziger Jahre, bis zum Ende des Kalten Krieges, mussten Schriftsteller aus diesen Ländern regelmäßig ins Exil gehen, wenn sie frei schreiben wollten. Heute, nachdem der Stern der Militärdiktatur gesunken ist und die Machthaber regelmäßig und friedlich durch Parlamentswahlen ausgetauscht werden, gibt es – zumindest formell – keine Zensur mehr. Jeder kann sich frei äußern. Dafür müssen die Autoren nun ihre Rolle neu suchen in Gesellschaften, die zwar Bürgerkriege überwunden haben, in denen jedoch viele alte Konflikte weiterschwelen. Heute finden sich Schriftsteller vielfach aufgerieben zwischen dem Hammer einer staatlichen Obrigkeit, die sich als demokratisch bezeichnet, aber die Kultur marginalisiert, und dem Amboss der schwierigen Sicherheitslage mit weitverbreiteter Kriminalität und Bandenwesen.

Lesen Sie den ganzen Artikel FAZ, 14. November 2015

„Der Weg bis Frankfurt ist weit“

Najem Wali über die Internationale Buchmesse in Costa Rica

Börsenblatt, 21. Oktober 2015

Verglichen mit der Frankfurter Buchmesse ist die Buchmesse Costa Rica klein – groß ist sie trotzdem: Hier treffen sich Verlage aus den Ländern Mittelamerikas, bilden sich weiter, hoffen auf gute Geschäfte, knüpfen Kontakte zu Autoren und Lesern. Auch Najem Wali, in Deutschland lebender irakischer Schriftsteller, war diesmal dabei, begegnete Gioconda Belli und Ernesto Cardenal, und dem Programmmacher René Strien.
Ein Reisebericht. VON NAJEM WALI

EinigeExponenten

An der 16. Ausgabe der Internationalen Buchmesse Costa Rica, die vom 18. bis zum 27.  September in der Hauptstadt San José stattfand, nahmen 238 Aussteller aus dem In- und Ausland teil, der Großteil davon aus Mittelamerika. Auch wenn die Messe sich selbst als international bezeichnet, so machen doch die Veranstalter keinen Hehl daraus, dass sie vor allem ein Schaufenster für Verleger aus den Ländern Mittelamerikas – Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Panama und Costa Rica  – darstellen soll. Natürlich kamen auch Aussteller aus anderen Ländern Lateinamerikas und der Karibik, aus Uruguay, Argentinien, Mexiko, Chile, Kuba, der Dominikanischen Republik und Jamaika, doch deren Anteil blieb verhältnismäßig gering gegenüber denen aus Mittelamerika.

Argwohn gegenüber Büchern
Theoretisch gibt es zwar einen gemeinsamen Binnenmarkt und einen Zusammenschluss ähnlich der Europäischen Union, doch de facto haben die sechs Länder Mittelamerikas die Bedingungen und Anforderungen für den freien Verkehr von Gütern und Dienstleistungen und die Freizügigkeit der Bürgerinnen und Bürger nicht so umgesetzt, wie dies in Europa der Fall ist. Es ist allerdings besonders verwunderlich, wie schwierig sich der freie Austausch von Büchern angesichts hoher Steuern und Frachtkosten gestaltet. 

Najem Wali über die Exzesse des IS im Nordirak

Kulturvernichtung als Programm

Im Nordirak zerstören Milizionäre des IS gezielt antike Kulturschätze. Der irakische Schriftsteller Najem Wali zeichnet die Spur der Verwüstung nach, welche die Gruppierung seit 2013 nach sich zog.
In einem Video dokumentierte der IS seine Zerstörungsorgie im Museum von Mosul.
In einem Video dokumentierte der IS seine Zerstörungsorgie
im Museum von Mosul. (Bild: PD)

Das Video, welches – in gewohnt effekthascherischer Inszenierung – die mit Vorschlaghämmern und Schlagbohrern bewehrten IS-Kämpfer bei ihrem Zerstörungswerk im Antikenmuseum von Mosul zeigte, dürfte kaum jemand ohne Erschütterung angesehen haben. Der Schock vertiefte sich, als die Nachricht von der Schleifung von Nimrud durch die Medien ging; die südöstlich von Mosul am Ufer des Euphrat gelegene, im 13. Jahrhundert vor Christus gegründete Stadt war in ihrer Blütezeit die zweite Hauptstadt des assyrischen Königreichs gewesen.Von dort krochen die Planierraupen des IS einer weiteren Kulturstätte am Euphratufer entgegen, der über zweitausendjährigen Stadt Hatra , deren Ruinen inzwischen niedergewalzt sein sollen. Der Islamische Staat scheint alles in Trümmer legen zu wollen, was an die Hochkulturen in seinem nordirakischen Herrschaftsgebiet erinnert und als Symbol für diese Vergangenheit steht.

Das Verbrechen heißt Ignoranz

Rede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das Politische Buch 2014

von Najem Wali
veröffentlich in DIE PRESSE, 13. März 2015

Der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ist der erste bedeutende Preis überhaupt, der mir verliehen wird. Er kommt zu einem Zeitpunkt, über den ich mich mit all seinen Implikationen und zufälligen Überschneidungen für mich nur freuen kann, gerade als Autor, der nur ungern ein Notizbuch mit sich herumträgt. Mein kreatives Credo lautet nämlich: Was das Gedächtnis nicht aufbewahrt, taugt nicht, erzählt zu werden! Und ich brauche auch wirklich nur einmal den Startknopf meines Gedächtnisses zu drücken, schon sprudeln die Geschichten wie aus einem Wasserhahn hervor – weniger, um den Durst nach einem Wiederauflebenlassen vergangener Erinnerungen zu stillen, die wie süße Qualen auf meinem Herzen lasteten, wie bei jemandem, der sich im heißesten Sommer an kühlem Wasser labt, sondern weil es mir Freude bereitet, mein Vergnügen am Erzählen mit der Welt zu teilen, es ist ein Ausdruck von Großherzigkeit, wie das Erzählen überhaupt. Sehen wir uns doch nur einmal an, wie Liebende sich gerade in den Tagen der ersten Verliebtheit mit süßen Wasserströmen übergießen, die sich einen Weg in ihre Herzen bahnen. Und wer erzählt, wird zwangsläufig auch erkennen, wo sich seine Geschichte mit denen der anderen überschneidet. Viele Zufälle. Obwohl es laut RobertMusil ja keine Zufälle gibt, sondern nur eine Menge sich begegnender Möglichkeiten. Oder, um mit Ingeborg Bachmann zu fragen: „Wann begegnen sich unsere beiden Geschichten?“

„Charlie Hebdo“ aus arabischer Sicht

Empörung – über wen?

von NAJEM WALI
Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2015

Die arabische Presse befasst sich einlässlich mit den Pariser Attentaten. Aber nur wenige Stimmen verurteilen die Anschläge vorbehaltlos oder pochen gar auf eine Mitverantwortung der arabischen Welt.

«Das Problem, das sich nach der Ermordung der Mitarbeiter von ‹Charlie Hebdo› in erster Linie den Staaten Europas, in zweiter aber auch uns Arabern stellt, ist nicht neu. Es hat mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert im Hintergrund des Schauplatzes gelauert, auf dem sich die Beziehung Europas mit seinen südlichen Nachbarn konstituiert.» So beginnt der liberale kuwaitische Autor Muhammad al-Ramihi einen Artikel, der unter dem Titel «Nach ‹Charlie Hebdo› – und vorher» am 17. Januar in der Zeitung «Al-Sharq al-Awsat» erschien. Jenes Problem steht seiner Meinung nach in direktem Zusammenhang mit einer anderen Frage: Anerkennt Europa den Islam als Religion, sieht es die hier lebenden Muslime als Teil eines modernen Europa, das zur Koexistenz verpflichtet, oder nicht?

Immer ein «aber»
Al-Ramihi ist nicht der Einzige, der den Ball solchermassen Europa zuspielt – in einem Fall, wo es immerhin um die kaltblütige Ermordung von 17 Menschen geht, die den Brüdern Kouachi und ihrem Verbündeten Amedy Coulibaly zum Opfer fielen.

Der irakische Sisyphos

Najem Wali über den Vormarsch des Isis im Irak

Der Schriftsteller Najem Wali hat seine Heimat Irak unlängst besucht und registrierte mit Freude eine Renaissance des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Ist die kurze Blütezeit schon am Ende?
Neue Zürcher Zeitung, 26. Juni 2014

Wer Bagdad im Frühling 2014 besucht hat, mag dasselbe gedacht haben wie ich: Die Stadt ist dabei, sich ihre Lebensfreude Stück für Stück zurückzuerobern. Bis im vergangenen April, als ich Bagdad für eine Lesung besuchte, hätte ich mir schwerlich vorstellen können, dass man im Herzen der Stadt, und obendrein im Freien, eine Kulturveranstaltung abhalten könnte, bei der sich über 500 Menschen drängten. Wer hätte das erwartet? Auch auf die Strassen und Märkte war das Leben zurückgekehrt – und das trotz der Gewalt, welche die irakische Hauptstadt nach wie vor heimsuchte. Laut der Statistik der Uno-Mission für den Irak hatten Terroranschläge allein im Februar im Land 703 Todesopfer und 381 Verletzte gefordert, und Bagdad war von solchen Untaten in überdurchschnittlichem Mass betroffen.

Kleine Paradiese
Und dennoch: Die Bewohner hatten es satt, immer nur zu Hause zu sitzen – ganz besonders die Jungen. Ausgehen, flanieren, das war endlich wieder an der Tagesordnung.

Überleben in Bagdad: Große Furcht vor den Gotteskriegern

Der irakisch-deutsche Schriftsteller Najem Wali sorgt sich um seine Schwester, die in Bagdad lebt. Für SPIEGEL ONLINE beschreibt er den Überlebenskampf eines Volkes, das schutzlos den Gotteskriegern ausgeliefert ist.
13. Juni 2014

Bei meinem letzten Besuch im Irak, im März 2014, war meine Schwester traurig und auch ein wenig sauer auf mich, weil ich, statt bei ihr zu wohnen, das in der Innenstadt liegende Hotel Bagdad auswählte. Nur mit Mühe konnte ich sie überreden, meine Lesung am al-Kischla in der Mutanabbi-Straße zu besuchen, der Buchhandelsstraße, einer der ältesten Straßen Bagdads.

Meine Schwester wohnt in der Peripherie von Bagdad in der Nähe des Internationalen Flughafens im Nordwesten der Stadt, und die Fahrt von ihrem Haus bis zum Zentrum dauert mit dem Auto zwischen einer bis zu zwei Stunden. Am Ende kam sie dann doch rechtzeitig mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen. Sie war zwar froh, mich zu sehen, aber bis zu unserem Abschied enttäuscht, weil ich sie nicht zu Hause besuchen konnte.

Das andere Gesicht Bagdads

Kulturszene im Irak

Najem Wali hat sich zu einer Lesung in die irakische Hauptstadt gewagt. Ein Reisebericht.
Erschienen in der TAZ, 27. April 2015

Eine Kulturveranstaltung auf einem öffentlichen Platz im Herzen Bagdads mit Hunderten Zuhörern? Wer hätte das gedacht? Bis zum Tag meiner Ankunft zweifelte ich daran, ob das etwas Erfreuliches wird, ob sich die abenteuerlichen Strapazen einer Reise nach Bagdad für eine Literaturlesung lohnen. In den Nachrichten aus dem Irak hört man täglich von explodierenden Autobomben, sodass es nur eine Frage des Glücks, eine Art russisches Roulette zu sein scheint, ob man selber Opfer des Terrorismus wird. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, das genügt.

Allein in den letzten zwei Jahren haben al-Qaida zugerechnete Gruppen über 2.000 blutige Anschläge verübt. Mehr als 6.000 Todesopfer und 20.000 oft sehr schwer verletzte Iraker sind das Resultat. Hunderttausende Menschen sind von der anhaltenden Gewalt traumatisiert, die die Männer von al-Qaida und Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isis bzw. Isil, Daaisch) ausüben, noch verstärkt seitdem sie 2013/2014 in al-Anbar und Falludscha die Kontrolle übernahmen. Mittlerweile kontrollieren sie auch die Stadt Abu Ghraib, die nur 32 Kilometer von der Stadtgrenze Bagdads entfernt liegt.

Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele Freunde meine wiederkehrenden Besuche in Bagdad für absolut wahnwitzig halten – „Selbstmord“, wie eine Freundin kommentierte. Wahnwitzig erschien auch die Idee einer großen Lesung dort. Ich habe selber lange gezögert: Ist es vernünftig, wie ich es plante, auf einer Freiluftbühne mitten in Bagdad öffentlich aufzutreten, um aus meinem jüngsten Roman vorzulesen, während neben mir ein Bagdader Musikensemble klassische Musik darbietet? Und mehr noch: war es vernünftig und denkbar, dass neben mir eine blonde Frau sitzen sollte, die Auszüge aus der deutschen Übersetzung des selbigen Romans vorträgt? Konnte man vernünftigerweise davon ausgehen, dass dies ohne Zwischenfälle im wahrsten Sinne des Wortes „über die Bühne gehen“ würde?

Gestern noch Ruine – heute Bühne

10 Jahre nach dem Irakkrieg

Ein komplett gescheiterter Staat
Das Land ist von einem funktionierenden Rechtsstaat weit entfernt. Zehn Jahre nach dem Irakkrieg zeigt sich eine niederschmetternde Bilanz.

Ein Bericht von Najem Wali
in: Die TAZ, 19. März 2013

Vor zehn Jahren, am 20. März 2003, drangen US-amerikanische Marines und die Landstreitkräfte der britischen-imperialen Krone, in deren Territorien die Sonne seit einem halben Jahrhundert nicht mehr aufgegangen ist, in irakisches Gebiet ein – unter dem Vorwand, die Fackel der Demokratie ins Land tragen zu wollen, und mit dem starken Argument, nach Massenvernichtungswaffen zu suchen.

Aber, statt das eine ins Werk zu setzen und die anderen zu finden, haben sie Angst und Zerfall über das Land gebracht. Wer hoffte, dass die USA die von ihnen propagierte Demokratisierung und den Wiederaufbau unterstützen würden, und sei es aufgrund ihrer eigenen Interessen im Geiste des sogenannten Kriegs gegen den Terror, wie sie es schon im Krieg gegen den Kommunismus getan haben, als sie den Aufbau Japans und Deutschlands unterstützten –, wer das annahm, wurde in seinem Glauben enttäuscht.

Wer heute im Irak lebt oder wer sich in den Straßen Bagdads umschaut, braucht weder Theoretiker für Demokratie noch Spezialist in Wirtschaft oder Politik zu sein, um sich ein anschauliches Bild von dem Chaos und dem Verfall zu machen, die allerorts um sich greifen. Getoppt wird dieser Eindruck noch von Straßen und Brücken voll tiefer Rillen im Asphalt, Schulen mit gähnenden Löchern anstelle von Türen, Krankenhäusern in katastrophal unhygienischem Zustand und völlig versumpften Spielplätzen.

Das ganze Land scheint dem Verfall preisgegeben zu sein. Kein Müllauto oder Müllmann kommt je vorbei, denn die Stadt- und Gemeinderäte sind, ganz nach dem Vorbild ihrer Parlamentarier und Minister, viel zu sehr mit dem Plündern befasst. Sie haben gar keine Zeit für den Aufbau. Ein im Irak verbreitetes Bonmot fordert mittlerweile die Einrichtung eines eigenen „Ministeriums für Bestechliche und Fälscher“.

A visit to the house of dreams

Author Najem Wali revisits the magnificent house of Iraq’s first Minister of Finance, Sassoon Eskell, on the banks of the Tigris.

signandsight.com 21/03/2011
„House of Dreams“ that is the only truly fitting name for this building, I find. I can remember that every time I walked past it back when the country was still called the „Republic of Iraq“ I would think of the master craftsman who once built it. That was at the beginning of the 20th century, in the times of the great craftsmen (before architects and engineers took over construction) whose intuitive artistic skills were guided more by fantasy than reality. And even today, despite all the changes that have been made, anyone who looks at the house, standing there defiantly, can’t but be amazed by the skill of Master Kathim Ibn Arif at having created such a magnificent and elegant building.

Everything about it is beautiful: the curves of the arches, the doors, the balustrades on the roof, the wooden-framed windows, the sweeping balcony high above the Tigris. It’s almost as if each stone of the house, set back slightly from historical Al Rashid Street, had been gently stroked and lovingly formed by the master’s hand. As if that hand had never realised that the owner of this building, which could have comfortably housed a large family, would remain unmarried his whole life long. Yes, it really seems as if that Baghdad master builder knew with an instinct unfettered by university study that this house would have to be large enough to accommodate all the dreams of its future occupant. That it would have to have as many rooms and levels as the dreams of the man who would sleep and wake up in it. As if the master had known that this house on the banks of the Tigris in the centre of Baghdad would stand the test of time – an enduring testimony not just to the inability of a whole series of governments to strike it from collective historical memory, but above all to the dreams of masters long gone and masters yet to come.

I couldn’t help thinking of all this when a few weeks ago, on a gloriously joyous Wednesday (which only became joyous after I narrowly escaped a car bomb in front of the National Theatre), I sat on the balcony of that house – together with Iraqi filmmakers, directors, actors and camera people, some of them my age, others still young.
It was one of the rare happy gatherings of my most recent visit to Baghdad. I could count the times I’ve had such wonderfully inspiring moments on the fingers of one hand. That day I understood better than ever before that this architectural work by one of Iraq’s renowned masters, into which he had poured all his fantasy and creative skills, could only be one thing: a dream factory.

The house first caught my attention when I came to study in Baghdad in the early 1970s. Particularly for those of us who came from other cities, this magnificent building on the banks of the Tigris was very striking. To get into it or get a good look at it you had to approach from the side facing the river, which offered us the happy opportunity of taking secret swims in the river or sitting on the river bank. I can’t remember any of us ever using the main entrance on Al Rashid Street. But I do remember that the name of the original owner, if mentioned at all, could only be whispered.

Remember, I’m talking about 1973 and the years after here. Just over three years before, the Baath regime had executed Jewish and Shiite citizens under the pretext that they were spying for the Israelis. The mere mention of a Jewish name back then was enough to raise suspicion, despite the fact that the original owner of the house, who spent the last years of his life here, had died on August 31, 1932 in Paris – 16 years before the founding of the State of Israel, and therefore couldn’t have had anything to do with such accusations. Nor did it make the slightest difference that this man was Iraqi to the core.

The grand old lady Gertrude Bell once wrote of him that he was „by far the ablest man in the Council. A little rigid, he takes the point of view of the constitutional lawyer and doesn’t make quite enough allowance for the primitive conditions of the Iraq, but he is genuine and disinterested to the core. He has not only real ability but also wide experience.“ He laid a solid foundation for the Iraqi economy by creating a financial system with clear, fixed rules. And as the records of the negotiations with the British on how the revenues from crude oil were to be distributed make clear, it was he who pointed out to the chief negotiator that the gold standard should be applied for calculating the oil revenues, to ensure that the shares of the revenues remained stable.

Five times he was minister of finance, as if all the different governments agreed on his competence and impartiality. After his death not a single secret account was discovered, either in his name or in that of any relative.
And not only that: he was so thoroughly Iraqi that to this day he is one of the very few politicians of this country at the mention of whose name the words „God bless his memory“ always followed, as I heard my grandfather say countless times. Who could forget Sir Sassoon Eskell, the first Iraqi minister of finance (appointed on 27 October, 1920, with the government of Abd Al-Rahman Al-Gillani); Sassoon Effendi, as his Iraqi contemporaries (in particular the Baghdadi) used to call him, whose name could never be separated from the house despite the attempts of all the governments that followed?

What particularly caught my attention about this two-story building back then were the stories that had sprung up about Sassoon Effendi’s vast private library. It was said that the books were spread out in almost every room of the house; that is was the largest private library in Iraq, with works in many languages: Arabic, Turkish, English, French, Italian, Spanish and German – all the languages Eskell could speak fluently.

Unfortunately, most of the books were lost when the library was confiscated by the Baath regime in 1970 in the course of its executions of Jews and Baath opponents. They said that the works had been integrated into the library of the Museum of Baghdad, but during all my many visits there I personally have never been able to find them. I couldn’t help thinking of all these things on that wonderful Wednesday – and also of how the house had remained locked up for years. No doubt the Baath regime didn’t know what to do with it at first. Perhaps it had also hoped that people wouldeventually forget the name of its owner.

It was only in the mid-1980s that the house was turned into a theatre venue. Here is where the play „The Melody of the Rocking Chair“ was first performed which, with its epoch-making character, was to entrench itself deep in the consciousness of Iraqi theatre-goers. It stayed on the programme for six months.

The protagonists of the play, two up-and-coming actresses who would later become quite famous, Inaam al-Battat (in Germany since 1996) and Iqbal Naim, wandered all over the house, up and down its staircases, across the balcony and past the balustrades. Inaam al-Battat played an aged, house-bound singer who refuses to give up while her assistant tries to console and soothe her.

The two women moved through the house, the audience trailing behind them, some of them carrying recorders to capture Inaam’s singing. Tirelessly she wailed for the man of her dreams: „He must come“, even though in this destroyed country she waited in vain. Everyone waited with her for this Iraqi Godot, as if Inaam’s voice could revive the old dreams lying dormant in the house, as if she could breathe new life into them with her movements. Everyone was caught in her dreams, the two women and the audience. But isn’t that so very much in keeping with the character of the house as a dream factory?

And today? For years the house was known as the „House of the Theatre Club“, a venue for experimental theatre. After April 9, 2003, the house became a shelter for soldiers of the army units charged with guarding public buildings and banks in Al Rashid Street. But the artists didn’t give up, and in 2010 young filmmakers were able to persuade the Ministry of Culture, to which the house officially belongs, to allow them to turn at least part of the house „the prettiest side which faces onto the Tigris“ into a cinematography centre. The side that faces the street is still used as a barracks.

So on that joyful Wednesday the young people there were in high spirits and busy moving their filmmaking equipment into the house with their usual fervour while builders, the master craftsmen of today as it were, began with the renovation work. Meanwhile Oday Rasheed (director of the film „Underexposure„, which was screened in Germany in 2006) and Mohamed Al-Daradji (director of the film „Son of Babylon“, which was screened at the 2010 Berlinale film festival) confided to me that they dreamed of turning the whole house into a cinematography centre. I was aware, however, that the army has a very similar dream: namely to turn the whole building into a barracks (in particular because the nearby Liberation Square now functions as a starting point for the recent demonstrations and protests of young people against the government). So the army stands against the dreams of a group of young people whose only weapons are their cameras.

During the final years of his life Sassoon Effendi sought to crown his life’s work with the introduction of a national Iraqi currency, to which end he drew up a carefully thought-out plan. And indeed in spring 1932, a few months before he died, his efforts, supported by another Jew, Ibrahim el-Kabir, the general director of the audit office, bore fruit: the dinar was brought into circulation, replacing the Indian rupee and the Turkish lira which had been in use up to that point. This, too, was one of the great dreams that had its beginnings in this house.

Anyone who sits down with these young people and listens to their conversations as I did on that sunny day, will hear how determined they are to revive Iraqs film scene, how they dream of helping Iraqi cinema to international acclaim, and will realise that with their enthusiasm these people are treading in the footsteps of the great master builder himself, and that the choice of this house of all houses was no mere coincidence. Wasn’t it inevitable that such an endeavour should begin here, in the spirit of this house of dreams?

This article was originally published in the Frankfurter Rundschau on 11 March 2011
Translation from the German: Alison Waldie

Najem Wali was born in Basra in 1956 and fled Saddam Hussein’s regime to live in Germany in 1980. Today he lives in Berlin. His books include „Joseph’s Picture“ MacAdam/Cage (2010) and „Journey Into the Heart of the Enemy“ MacAdam/Cage 2009.

Die Angst vor der Einsamkeit

Was Menschen tun, wenn sie nichts zu tun haben. 

Najem Wali über die „freie Zeit“ eines Schriftstellers
Erschienen in KULTURAUSTAUSCH, Zeitschrift für internationale Perspektiven,
Ausgabe IV/2009

Wer viel gearbeitet hat, fühlt sich danach oft leer. Warum es für Schriftsteller schwierig ist, ein Buch zu beenden

Hat ein Schriftsteller freie Zeit wie andere Leute? Ich glaube, es ist nicht übertrieben, wenn ich das verneine. Und ich beziehe mich dabei nicht nur auf die Phase, in der ein Schriftsteller ein Werk schafft. Alle, die schreiben, wissen, dass das Buch, an dem sie gerade arbeiten, sie Tag und Nacht verfolgt, sie gar in ihren Träumen heimsucht. Dessen sind sich selbst diejenigen bewusst, die täglich ein selbst vorgegebenes Pensum Schreibarbeit erledigen. Manche mögen zwar Strategien entwickelt haben, um dies zu vermeiden. Doch auch sie stellen fest, dass ihre Romanfiguren sie nach Ende der Arbeitszeit nicht loslassen. Dies kann man den Tagebuchaufzeichnungen etlicher Schriftsteller posthum entnehmen. Ihre Schöpfer beschweren sich keinesfalls darüber, sondern nehmen es gerne in Kauf, mehr noch: Sie wünschen sich gar nicht, ihre Arbeit zu beenden. Wer denkt, das läge daran, dass Schriftsteller nun mal gerne schreiben, irrt. Die Ursachen liegen viel tiefer.