Der Tagesspiegel – Rezension

Jussif und seine Brüder

Von Andreas Pflitsch,
Der Tagesspiegel, 01.06.2008

Der irakische Erzähler Najem Wali und seine Verwirrspiele

Ägypten schreibt, der Libanon druckt, und der Irak liest“. Für diese Faustformel über die Arbeitsteilung im arabischen Literaturbetrieb gilt, wie für alle derartigen Formeln, dass sie einen Kern Wahrheit enthält, aber die Realität grob verkürzt. So richtig es ist, dass die ägyptische Prosa lange normgebend war, und so wahr es ist, dass die Beiruter Verlage bis heute die Szene beherrschen, so falsch wäre es, dem Irak alleine passives Konsumieren zu unterstellen. Mehr als die Literaturen der anderen arabischen Länder ist die irakische eine der Einzelgänger. Etwas lauter und greller geht es dort zu. Da sie vor allem im Exil entsteht, ist sie im doppelten Wortsinn „ex-zentrisch“. Der seit einiger Zeit in Berlin lebende Najem Wali ist in diesem Sinne ein typischer Vertreter.

1956 in Basra geboren, flüchtete er 1980 nach Ausbruch des Krieges zwischen Iran und Irak nach Deutschland und studierte in Hamburg und in Madrid deutsche und spanische Literatur. Nachdem mit „Der Krieg im Vergnügungsviertel“ (1989) und „Hier in dieser fernen Stadt“ (1990) zwei ins Deutsche übersetzte Bücher von ihm in kleinen Verlagen erschienen waren, wurde er 2004 mit dem bei Hanser verlegten Roman „Die Reise nach Tell al-Lahm“ einem größeren Publikum bekannt.

Der Roman beginnt höchst rätselhaft – und bleibt es: „Nur drei Menschen kennen die wahren Umstände dieser Geschichte. Ich war nicht darunter“, bekennt ein aufgeschmissener Erzähler. Aus dem Vexierspiel zwischen Innenwelt und Außenwelt, deren Auseinanderfallen der erzwungenen Unaufrichtigkeit unter dem diktatorischen Regime geschuldet ist, bezieht der Roman seine innere Spannung. Wali stellt der drückenden Atmosphäre des Misstrauens ein atemloses Fabulieren entgegen, eine mit erzählerischer Wucht und Tempo erzählte, an ein Roadmovie erinnernde, verschachtelte Geschichte. Es ist eine trotzige Selbstbehauptung inmitten beschädigten Lebens.

Najem Wali geht es nicht um eine vordergründige Anklage des Regimes von Saddam Hussein, sondern um die Mentalität, die solche Regimes erst möglich macht. Eine ausgeklügelte Bigotterie kommt da zum Vorschein, hohe moralische Standards auf der einen, ein ausgesprochen pragmatischer Umgang mit ihnen auf der anderen Seite, so wenn die landesweit bekannte Puffmutter und Kupplerin Iftaim Pay Day vom Staat gedrängt wird, in Frontnähe Filialen – euphemistisch „neue Häuser für den notwendigen Dienst“ genannt – zu eröffnen.

Verlogenheit ist auch das Metier der hochbetagten Coca, die eine illegale Abtreibungspraxis führt und sich auf die Wiederherstellung von Jungfernhäutchen versteht. Es sind vor allem die Frauen, die sich, der Macht ihrer Weiblichkeit bewusst, in den Nischen des Möglichen einrichten, während die Männer, von Kastrationsangst besessen, die „Bewegung der arabischen Gehörnten“ ins Leben rufen. Kurz: Der Roman trägt deutliche Züge einer Burleske inklusive zeitweiliger Derbheiten. Vor dem Hintergrund dieses Panoptikums nimmt sich der Erzähler geradezu stoisch aus. Er hat „kein festes Ziel“ und erträgt, was immer kommt. Der „Reise nach Tell al-Lahm“ ist als Motto ein Satz Boris Vians vorangestellt: „Diese Geschichte ist wahr, weil ich sie erfunden habe.“ Die eigene Geschichte erweist sich als der letzte verbliebene Anhaltspunkt in einer aus den Fugen geratenen Welt.

Walis nun auf Deutsch erschienener Roman „Jussifs Gesichter“ teilt den postmodernen Ansatz des Vorgängers und treibt ihn auf die Spitze. Die Fälschung wird „zur einzigen, mein Leben bestimmenden Wahrheit“ muss der Erzähler Jussif Mani erkennen. Getreu dem Diktum von Max Frisch, nach dem sich jeder seine eigene Geschichte erfindet, die er für sein Leben hält, werden wir Zeuge, wie Jussif seine Lebensgeschichte rekonstruiert, deren Kern das schwierige Verhältnis zu seinem älteren Bruder Junis darstellt.

Ein die beiden Brüder verbindendes traumatisches Kindheitserlebnis steht als blinder Fleck im Zentrum des zwischen dem Kuwait-Krieg 1991 und der amerikanischen Invasion 2003 spielenden Romans. Er beginnt mit dem „Ende der Geschichte“ und endet mit dem „Anfang der Geschichte“. Weil keine Information verlässlich ist, entsteht eine geradezu gespenstige Unschärfe. Die Verunsicherung angesichts eines wilden Spiels mit Namens- und Rollenwechseln, Vor- und Rückblenden vermittelt einen erschütternden Eindruck von einer ausgebrannten Gesellschaft, der alle Maßstäbe abhanden gekommen sind. Dass der Roman sich dennoch nicht im Schweren erschöpft, verdankt er seinem vom Glauben an das Humane durchtränkten Grundton. Der Triumph des Menschlichen wird allen Widrigkeiten zum Trotz als Möglichkeit erahnbar, und die Liebe ist stets eine schlagende Option.

Neben Max Frisch, dessen „Stiller“ zu den ersten Romanen gehörte, die er auf Deutsch las, und der um ihr Leben erzählenden Scheherazade hat ihm Franz Kafka Pate gestanden, auf den die Figur des Josef Karmali alias Josef K. unzweideutig verweist. Das ist, zugegeben, hoch gegriffen. Doch den Flirt des irakischen Schiiten mit dem Prager Juden sollte man nicht vorschnell als Anbiederung abtun. Zumal es im Irak dieser Tage, so wird man zugeben müssen, weit kafkaesker zugeht, als es Kafka wohl je eingefallen wäre.

Najem Wali: Jussifs Gesichter. Roman aus der Mekka-Bar.
Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien. Hanser, München 2008. 268 Seiten