Die Zeit – Rezension

Die Hölle sind nicht nur die anderen

Najem Wali sucht in seinem Roman „Bagdad Marlboro“ nach einem Weg, Krieg zu erzählen. Und er fragt, wie der Umgang mit Leid und eigener Schuld aussehen könnte.
von Fokke Joel
Die Zeit, 15. Oktober 2014 

Wie schreibt man über einen weit entfernten Krieg? Einen Krieg, den man nicht unmittelbar selbst erlebt hat, der einem aber nahegeht, weil er dort herrscht, wo man aufgewachsen ist, wo noch Freunde und Verwandte wohnen. Wo sich der Ursprung aller großen Träume aus Kindheit und Jugend befindet. Mehr als einmal wird sich solche und ähnliche Fragen auch Najem Wali gestellt haben, der aus dem Irak stammt und seit dem Ersten Golfkrieg in Deutschland lebt.

In seinem neuen Roman Bagdad Marlboro gibt Najem Wali bereits mit der Wahl des Erzählers eine erste Antwort. Dieser Erzähler ist ein Mann, der den Irak nach der amerikanischen Besetzung im Jahr 2003 verlassen hat und der nun „nach einer langen Odyssee, einer fast dreijährigen Irrfahrt durch verschiedene Länder der Welt“ unter falschem Namen im Exil lebt. Von hier aus erinnert er sich an die verschiedenen Kriege, die der Irak seit den 1980er Jahren geführt hat. Über die Kampfhandlungen selbst kann er dabei nichts sagen, denn er ist Tierarzt und hat den Krieg nur in der Etappe erlebt. Von 1980 bis 1988, im Krieg gegen den Iran, war er als Tierarzt für die medizinische Versorgung der Esel zuständig, die als „lebende Minenräumer“ an der Front verletzt wurden.

Später, im Krieg gegen die Kurden, betreute der Erzähler die Esel und Maultiere, die in den schwer zugänglichen Bergen militärisches Gerät transportieren mussten. Hier traf er auf die zweite wichtige Figur des Romans, den Dichter Salmân Mâdi, der als einfacher Soldat an vorderster Front kämpfen muss. Die Männer freunden sich an, und dem Erzähler gelingt es, Mâdi zu seiner „Eseleinheit“ abkommandieren zu lassen. Mit langen Gesprächen über Kunst und Literatur überbrücken sie die Langeweile des Krieges. Nur selten allerdings kann der Erzähler Mâdi dazu bringen, von seinen Erlebnissen an der Front zu berichten.

Sich der Schuld stellen

Die zweite Antwort, die Najem Wali mit seinem Roman auf die Frage nach der Darstellung des Krieges gibt, besteht darin, von der Nachkriegszeit zu erzählen. So lässt Wali die Rahmenhandlung des Romans, zu der er immer wieder zurückgekehrt, nach der Eroberung Bagdads durch die Amerikaner einsetzen. „Es waren die schwersten und möglicherweise auch die gefährlichsten Jahre, die die Stadt je erlebt hat.“ Der Erzähler erfährt, dass ihn ein amerikanischer Soldat namens Daniel Brooks sucht. Obgleich er Brooks nie persönlich begegnen soll, wird dieser Mann das Leben des Erzählers verändern. Brooks war unschuldig schuldig geworden, als er Kriegsgefangene erschoss, weil ihn ein Vorgesetzter dazu gezwungen hatte. Unter den Toten war auch Mâdi gewesen. Bei ihm fand Brooks ein Heft, in dem der Dichter die Träume seiner Kameraden aufgeschrieben hatte. Brooks will sich seiner Schuld stellen, will die Angehörigen der irakischen Soldaten suchen, deren Träume er in Mâdis Buch gelesen hat. Zudem erfährt er durch die Aufzeichnungen von der Freundschaft zwischen Mâdi und dem Erzähler – deshalb beginnt er auch diese Suche.

Mâdi und Brooks sind Schlüsselfiguren, anhand derer Najem Wali die Fragen nach Schuld, Verantwortung und einem Ausweg aus dem Kreislauf der Gewalt diskutiert. Die große Politik hingegen spielt keine Rolle. „Warum sollten wir über Politik reden, nachdem Salmân mir die Geschichte seiner Inhaftierung und Folterung erzählt hatte“, heißt es an einer Stelle. Der Name Saddam Hussein fällt kein einziges Mal, auch der von George W. Bush nicht. Diese Namen, die jahrelang den öffentlichen Diskurs bestimmt haben, sind für die Protagonisten des Romans deshalb nicht wichtig, weil die politisch-gesellschaftliche Situation in Bagdad Marlboro als eine Art unhinterfragbares Naturereignis hingenommen wird.

Der Schrecken im Hintergrund

Als Motto des Buches hat Wali ein Zitat von Italo Calvino ausgewählt. Calvino verortet darin die Hölle nicht im Jenseits, sondern im Hier und Jetzt. Und er identifziert zwei Arten, nicht unter dieser Hölle zu leiden: „Die erste fällt vielen leicht: die Hölle zu akzeptieren und so sehr Teil von ihr zu werden, dass man sie nicht mehr sieht. Die zweite ist riskant und verlangt ständige Aufmerksamkeit und Lernbereitschaft: zu suchen und erkennen zu lernen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Dauer und Raum zu geben.“

Wenn es auch ein paar erzählerische Exkurse gibt, auf die man hätte verzichten können, so überzeugt Bagdad Marlboro doch in dem Versuch, sich der Hölle zu stellen – in einer Weise, wie Calvino es in der zweiten Variante vorschlägt. Mit Brooks und Mâdi hat Najem Wali Charaktere geschaffen, die der Krieg mitgerissen hat, obwohl sie es nicht wollten. Vor allem sind es Männer, die versucht haben, sich ihrer Schuld zu stellen und nicht vor ihr zu fliehen. Der Krieg selbst ist der nicht erzählbare Schrecken im Hintergrund. Stattdessen ist es die Zeit nach dem Krieg, die in diesem Roman in den Mittelpunkt rückt. Eine Zeit, die nicht nur von den Briten und Amerikanern hoffnungslos unterschätzt wurde, sondern in der sich der Krieg noch einmal in seiner ganzen Brutalität spiegelt.