Süddeutsche Zeitung – Rezension

Geliebter Feind

Najem Wali erzählt in seinem packenden Kriegsroman „Bagdad Marlboro“ von zwei eigentlich friedfertigen Freunden, die zu Kriegsverbrechern werden – und von der nicht endenden Gewaltspirale in seiner irakischen Heimat
von Karl-Markus Gauß

Im April 2003, der Krieg der USA und ihrer Verbündeten gegen den Irak hatte gerade begonnen, trifft ein
amerikanischer Veteran in einem der zerbombten Vororte von Bagdad auf den Erzähler. Er ist aus den Staaten
in die Hölle auf Erden zurückgekehrt, um diesen Mann ausfindig zu machen und ihm endlich einen Brief zu
übergeben, der in einem anderen Krieg, zwölf Jahre zuvor, in seine Hände gelangte. Seit damals, als er in den
Krieg um den Kuweit zog, führt er dieses Schreiben bei sich, das ein irakischer Dichter an den Erzähler gerichtet
hatte. Diese beiden wiederum, der Dichter und der Erzähler, ein Tierarzt, waren seit den Achtzigerjahren
miteinander befreundet, als sie im irakisch-iranischen Krieg im selben Bataillon kämpfen mussten.

Seit 35 Jahren findet der Irak nicht zum Frieden, sodass die Leute, die sie alle erlebten, längst begonnen haben,
die Kriege zu verwechseln oder sie zu einer niemals abreißenden Kette von Mord, Bombenterror, Entführungen,
Hinrichtungen, Schlachten und Schlächtereien zu verbinden. Die Wunden, die der erste Krieg schlug, waren
nicht vernarbt, als der zweite ausbrach, und all die Traumata, mit denen eine Generation aus diesem von der
Front heimkehrte, wurden im nächsten bald darauf wieder akut. Der ewige Kreislauf der Gewalt hat das Land
wirtschaftlich ruiniert, Millionen Iraker demoralisiert und die Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben der
Menschen bis in die kleinsten Einheiten der Gesellschaft zerstört: „Alles war ansteckend in unserem Land: die
Lüge ebenso wie die Verleumdung, der Neid ebenso wie die Niedertracht, die Aggression ebenso wie der Mord,
die Entführung ebenso wie die Erpressung, die Vergewaltigung ebenso wie die Hurerei. Jawohl, alle diese üblen
Eigenschaften übertrugen sich wie ein Virus unter den Leuten.“ Der dies feststellt, ist der Ich-Erzähler des neuen Romans von Najem Wali, dem irakischen Schriftsteller, der 1980, als der Irak den Iran überfiel, nach Deutschland flüchtete und bis heute im Exil geblieben ist.

Alle Romane Najem Walis sind hochkomplexe literarische Konstruktionen, oft springt der Autor, so auch in „Bagdad Marlboro“, innerhalb eines Absatzes um Jahrzehnte vor und wieder zurück, sodass sich, für den Leser irritierend, aber durchaus erhellend, der Eindruck ergibt, die Zeiten würden sich gegenseitig durchdringen. Und tatsächlich gehören alle diese Kriege ja auch zusammen, weniger im militärischen oder strategischen Sinne, sondern weil sie die Gesellschaft zugleich militarisierten und zerfallen ließen, in unzählige nationale, lokale, religiöse Gruppen und kriminelle Organisationen, die sich auf unerhört grausame Weise gegenseitig bekämpfen.

„Bagdad Marlboro“ ist ein anspruchsvoller, packender Kriegsroman, der den Leser herausfordert – mit seiner
literarischen Raffinesse, aber auch wegen der deprimierenden Perspektive, die er bietet. Die Lebenswege
zweier Männer werden überblendet. Beide lieben sie den Frieden, der eine, der irakische Dichter Salman Madi,
zudem die Poesie, der andere, der amerikanische Soldat Daniel Brooks, hingegen den Witz und die Wüste.
Beide werden sie, gegen ihre Absicht und ihr Naturell, zu Verbrechern. Salman Madi erschießt, auf Befehl zwar,
in der Hektik eines überraschenden Ausbruchsversuchs jenen amerikanischen Kriegsgefangenen, mit dem er in
den Tagen davor immer Zigaretten der Marke „Bagdad“ und „Marlboro“ geteilt und über die Lyrik Walt Whitmans
diskutiert hat. Und Brooks, der aus Sympathie zu den Wüstenländern sogar Arabisch erlernte, überf.hrt mit einem Bulldozer die irakischen Soldaten, die sich in einem sandigen Schützengraben verborgen hatten und ergeben wollten. Mit dem, was sie gegen ihren Willen und auch gegen ihr bisheriges Leben getan haben, werden der irakische Dichter und der amerikanische Leutnant nicht mehr fertig. Sie wollen bü.en, und sei es, dass sie sich dabei in ihre Verzweiflung einkapseln und an ihrem Unglück hängen.

Najem Wali erzählt davon, wie die verdrängte Gewalt neue Exzesse von Gewalt gebiert und ein ganzes Land in
den Strudel von Mord und Rache, Gegenmord und Widerrache gerät. Beklemmend weiß er zu zeigen, wie sich
das große Desaster verheerend noch auf die private Sphäre auswirkt, wie die heimgekehrten Krieger ihre
Ehefrauen malträtieren, wie in alte Freundschaften das Misstrauen einzieht, Nachbarn einander bei
marodierenden Milizen denunzieren, wie all das, was früher einmal das Leben lebenswert gemacht hat,
„Ehrlichkeit, Freigebigkeit und Hilfsbereitschaft zum Beispiel oder Güte, Anstand und Aufrichtigkeit“, aus dem
Alltag verschwindet.

Immerhin, der traurige Witzbold Brooks macht sich, als er die Bilder vom neuen Krieg sieht, auf den Weg, um mit
dem alten abzuschließen und den Brief des unbekannten Dichters dem richtigen Empfänger zu übergeben. Der
Brief – das ist ein Text, ein Versuch, über das namenlose Grauen zu sprechen. Auch der Roman ist ein Versuch,
die Kette der Gewalt aufzubrechen, indem von dem erzählt wird, was die Menschen getan haben und was ihnen
angetan wurde. Der Untertitel des Buches lautet: „Ein Roman für Bradley Manning.“ Das ist jener amerikanische
Soldat, der von einem Militärgericht zu 35 Jahren Haft verurteilt wurde, nicht weil er die Unwahrheit behauptet, sondern die Wahrheit darüber verbreitet hat, was Krieg bedeutet.

Quelle: Süddeutsche Zeitung, Mittwoch, den 07. Mai 2014

Najem Wali: Bagdad Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning. Aus dem Arabischen von Hartmut
Fähndrich. Carl Hanser Verlag, München 2014. 352 Seiten, 21,90 Euro, E-Book 16,99 Euro.