Frankfurter Allgemeine – Rezension

Ein Roman, der uns die Augen über unsere Gegenwart öffnen will: Najem Wali fragt in „Bagdad Marlboro“ nach Schuld und Sühne in seiner von Diktatur und Krieg zerrissenen Heimat Irak.

von STEFAN WEIDNER
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 7. Juni. 2014

Ein Zyniker könnte behaupten, dass die brutale Geschichte des Iraks ein Segen für die Literatur der Gegenwart ist; und zugleich fragt man sich, ob die Kritiker, die die Irak-Kriegsliteratur gut finden, Zyniker sind. Das Spektrum derartiger Romane ist breit, selbst wenn man nur das nimmt, was mittlerweile auf Deutsch vorliegt. Es reicht von den irakischstämmigen Autoren, die auf Deutsch schreiben, wie Abbas Khider („Die Orangen des Präsidenten“) und Hussain al-Mozany („Der Marschländer“), über den Syrer Fawwaz Haddad („Gottes blutiger Himmel“), einen deutschen Autor wie Thomas Lehr („September“) oder den Amerikaner und Irak-Veteranen Kevin Powers („Die Sonne ist der ganze Himmel“) bis zu denjenigen Irakern natürlich, die auf Arabisch schreiben.

Einer der hierzulande bekanntesten Autoren, die in diese Reihe gehören, ist Najem Wali, 1956 in Basra geboren, Anfang der achtziger Jahre zum Studium nach Deutschland gekommen und in Berlin lebend. Mit „Bagdad Marlboro“ ist jetzt sein vierter Roman bei Hanser erschienen, diesmal in der flott lesbaren Übersetzung von Hartmut Fähndrich, dem Altmeister der arabisch-deutschen Prosaübersetzung.

Anders als die meisten Irak-Romane, die sich in der Regel auf nur einen der vielen Kriege Saddam Husseins konzentrieren, schlägt Najem Wali einen weiten Bogen: vom iranisch-irakischen Krieg Anfang der achtziger Jahre und den Kämpfen in Kurdistan, wo sich die beiden Hauptfiguren des Romans kennenlernen, der namenlose Ich-Erzähler und der poète maudit Salman Madi; bis zum amerikanischen Einmarsch in Bagdad und dem viel schlimmeren Nachkrieg. Auch der Prozess gegen den amerikanischen Armeeangehörigen und „Whistleblower“ Bradley Manning spielt im Roman eine Rolle.

Der Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist aber der Kuweit-Krieg von 1991. Wali verknüpft hier die Geschichte der beiden Iraker mit denen zweier Amerikaner: Daniel Brooks, der von seinem Vorgesetzten zum kaltblütigen Mord an irakischen Kriegsgefangenen gezwungen wird, und dem von Salmans Einheit gefangen genommenen David Barbiero, der bei einem Fluchtversuch ums Leben kommt. Salman und David waren sich über die Liebe zur Poesie nahgekommen und hatten als Geste der Freundschaft Zigaretten getauscht: die irakische Marke „Bagdad“ gegen „Marlboro“.

Der Titel des Buchs ist eine Reminiszenz an den Erzählband „Sarajevo Marlboro“ des Kroaten Miljenko Jergovic; er hätte auch „Schuld und Sühne“ lauten können, womit die zentralen Motive des Buchs benannt wären. Denn keinem, auch der reinsten Seele nicht, gelingt es, im irakischen Schlamassel die Unschuld zu bewahren. Selbst der immer gut gelaunte „Smiley Man“ Daniel und der manisch-depressive Salman werden zu Mördern, ebenso wie am Ende der bis dahin das Geschehen eher aus der Distanz verfolgende Ich-Erzähler, der sich in Form der erlebten Rede in alle seine Nebenfiguren erstaunlich gut einzufühlen vermag.

Bei den ermordeten Kriegsgefangenen findet Daniel einen Brief Salmans, der an den Erzähler gerichtet ist. Als er zwölf Jahre später im Fernsehen die Berichte vom Einmarsch der Amerikaner in Bagdad sieht, beschließt er, seine Schuld zu sühnen, indem er für die irakischen Opfer sammelt und den Brief an den Adressaten aushändigt. Kaum im Irak angekommen, wird er entführt, und der Adressat, unser Erzähler, sieht sich vor die Wahl gestellt, ihn zu ermorden oder selbst dran zu glauben.

Dieser Plot wird mit großem Aufwand und zahlreichen Nebenfiguren im Prinzip chronologisch erzählt; der Leser lasse sich durch die zahlreichen Verästelungen und überbordenden Erzählerkommentare nicht in die Irre führen. Spannung entsteht durch den ständigen Aufschub des Hauptstrangs in Gestalt von Nebenerzählungen – das gute alte Prinzip der Märchen von „Tausendundeine Nacht“. Das ist wie ein Strom, der viel Geröll mit sich führt und natürlich doch nur ins Meer mündet: Interessant ist das Geröll, nicht die Ankunft im Meer.

Man erfährt bei Wali viel über den Irak seit den achtziger Jahren, über die wechselnde Befindlichkeit der Iraker, über den Fluch, der über dem Land liegt, über die Gewalt in Gestalt von Diktatoren, Invasoren und schließlich in der waffenstarrenden Anarchie der Gegenwart der einfachen Iraker. Man erlebt den quälenden Alltag mit Straßensperren und der ständigen Gefahr von Entführung, Mord, Anschlägen.

Man liest aber auch über die Suche nach Liebe, das Leben in den Bars und Cafés, den Fluchtpunkt Poesie. Egal, was geschieht, stets werden die Verse des irakischen Dichters Sargon Boulus (1944 bis 2007) zitiert, mit denen die

Iraker ihren Trotz gegen Gewalt und Willkürherrschaft ausdrücken: „Du Henkersknecht, geht doch in dein Kaff zurück. Wir jagen dich zum Teufel und schmeißen dich aus Amt und Würden.“

Fast wundert man sich, dass es dem Autor am Ende gelingt, seinen Sack voller Geschichten zuzumachen. Bis es so weit ist, müssen noch einige Iraker mehr sterben. Es gehört zu den Erkenntnissen, die man aus der Lektüre zieht, dass die Realität, jedenfalls im Irak, womöglich wilder ist als der phantasievollste Autor sich auszumalen vermag. Oder sitzen wir bei dieser Erkenntnis nur einer Kolportage auf? Der Erzähler in „Bagdad Marlboro“ jedenfalls hebt seinen Bericht auf die Stufe der Militärgeheimnisse, die Bradley Manning an Wikileaks verraten hat, und so wird Manning vom Verräter, als der er verurteilt wurde, seinerseits zum Autor und dann von seinem Kollegen wie folgt angeredet: „Werden sie mir auch Verrat vorwerfen? Sei’s drum. Zwei wie wir, Sie und ich, lassen sich doch nicht durch Gefängnis oder Haft von ihrem Vorhaben abbringen. Unsere Stärke liegt in der Einsamkeit. Wir haben Geschichten genug.“

Man wüsste gern, was Manning der sich als Frau fühlt und deshalb seinen Vornamen rechtskräftig in Chelsea abgewandelt hat, zu dieser Metamorphose sagt, die Najem Wali hier vorgenommen hat. Zu fünfunddreißig Jahren Haft verurteilt, dürfte Chelsea Manning finden, dass zumindest die Risiken bei Verräter und Erzähler sehr ungleich verteilt sind. Da wir keine Zyniker sein wollen, wünschen wir inständig, dass die Zukunft des Iraks anders aussieht als diese Gegenwart, über die uns die Literatur die Augen öffnen will.

Najem Wali: „Bagdad Marlboro“. Roman.
Aus dem Arabischen von Hartmut Fähndrich. Carl Hanser Verlag, München 2014. 350 S., geb., 21,90 Euro. Alle Rechte vorbehalten. © Frankfurter Allgemeine Zeitung GmbH, Frankfurt am Main