Der lange Weg zur Geschichte
Irene Binal über „Engel des Südens“
NZZ, 19. April 2011
Najem Wali hat aus der wechselhaften Vergangenheit des Iraks einen grossen Roman geschaffen
«Ohne ein bisschen Erfindungsgabe gelangt der Mensch niemals zur Wahrheit», sagt Harun Wali: «Die Schriftsteller betreten den Ring erst, wenn der Kampf zu Ende ist. Und dann müssen sie ihn erfinden, als existiere er wirklich.» So hat Najem Wali im Gewand seines Alter Ego Harun die Geschichte seines Landes gleichzeitig aufgearbeitet und erfunden und sich auf dem schmalen Grat zwischen Realität und Phantasie durch die blutige irakische Vergangenheit gearbeitet. Nach Jahren im Exil kehrt Harun Wali in seine Heimatstadt Amaria zurück und entdeckt auf dem Englischen Friedhof eine Inschrift, die er selbst hinterlassen hat: «Malaika al-Dschanub – Engel des Südens». Malaika war Walis Jugendliebe, ein jüdisches Mädchen, dessen Bild eine Konservendose mit «Dattelsirup für die Braut» zierte – eine wehmütige Erinnerung an unbeschwerte Tage, als die Konfessionen im Irak noch friedlich zusammenlebten. Gespiegelt werden diese Konfessionen in drei Freunden: der Jüdin Malaika, dem Sabäer Nûr und dem Muslim Naim, die in die politischen Umbrüche der sechziger und siebziger Jahre geraten und deren Suche nach ihrem Platz im Leben vor dem Hintergrund ständiger Verfolgung zu einer Odyssee durch die Jahrzehnte wird.
Ein zerrissenes Land
Die eigentliche Protagonistin des Romans ist die Politik. Wechselnde Regime und Organisationen, Kriege und Gewalt, Flucht und Vertreibung prägen das Land, in dem die Menschen sich anpassen müssen oder zu Gejagten werden und in dem vor allem die konfessionelle Zugehörigkeit zur Gefahr werden kann. «Warum hielt jeder die eigene Religion für die bessere? Ist nicht der Glaube eine Art Machtausübung? Sogar ein in der Politik unerfahrener Junge wie Naim fragte sich automatisch, wie ein neuer Staat sich anhand eines konstruierten religiösen Zwangs aufbauen und die eigene Zukunft sichern wollte.» Malaika, Nûr, Naim und auch der Erzähler Harun selbst erleiden Verhaftung und Folter, fliehen von einer Stadt zur anderen, von einem Land zum anderen. Die Liebe zwischen Malaika und Naim, der Jüdin und dem Muslim, ist vor diesem Hintergrund zum Scheitern verurteilt; Naim geht nach Israel und kehrt erst Jahre später mit einem auf den Namen «Harun Wali» ausgestellten, schwedischen Pass zurück. Malaika heiratet Nûr und verbirgt sich hinter der Buschia, einem Schleier, der das ganze Gesicht bedeckt; ihr Vater, der bekannte Arzt Dawud Gabbay, wird hingerichtet. Es ist ein düsteres Szenario, in dem Najem Walis Figuren um ihre Würde und Integrität kämpfen, das Szenario eines gebeutelten Landes, das zwischen verschiedenen Interessen zerrissen zu werden droht.
All das erzählt Najem alias Harun Wali mit klarem Blick und ungewohnter Härte. Das Geheimnisvoll-Träumerische, das etwa Walis Roman «Jussifs Gesichter» auszeichnete, ist kaum mehr spürbar, das Spiel mit Identitäten bleibt zurückhaltend, die Poesie ist weitgehend verschwunden – für sie ist in dieser Chronik des Schreckens kein Platz mehr. Wie in einer Collage reiht Wali die Ereignisse aneinander, die Geschichten und Erinnerungen bekommen etwas Episodenhaftes; nicht umsonst nennt der Autor seine Kapitel «Entwürfe» und nimmt ihnen damit ihre Endgültigkeit. «Der Weg zur Geschichte ist lang», sagt Harun Walis Grossvater, und der Autor Najem Wali geht diesen langen Weg Schritt für Schritt. «Geschichten», schreibt er, «bestehen aus Bildern und lassen die Wirklichkeit sich öffnen wie eine Blume und mit dem Verlauf einer Erzählung reifen. Erst wenn wir eine Geschichte erzählen, wissen die Menschen, dass die einzige lohnenswerte Aufgabe die Suche nach der Wahrheit ist – nicht das Finden.»
Walis Suche umfasst mehr als 500 Seiten, zahlreiche Städte und Länder und unzählige Figuren, die alle auf ihre Weise den historischen Ereignissen begegnen. Da ist etwa Lalla, deren Mann von britischen Soldaten getötet wird und die daraufhin ein Bordell mit syphiliskranken Mädchen eröffnet, um die Briten absichtlich zu infizieren, und die zudem mithilft, Juden aus dem Land zu schmuggeln. Da ist Regina, eine Deutsche, die in der Ehe mit einem Iraker das Glück gesucht und nur die Verzweiflung gefunden hat und die sich nach einem gescheiterten Fluchtversuch an Lalla um Hilfe wendet. Da ist der zwielichtige Strassenbauingenieur Tony Armstrong, da ist Nûrs Halbbruder Laith, der auf Nachrichten über die Hinrichtung von Juden wartet, weil es dafür gute Noten in Englisch gibt, und der sich später mit Fauzi zusammentut, der nicht umsonst «die Pest» genannt wird.
Irritierend und fesselnd
Fast verwirrend erscheint dieser Figurenkosmos in seinen Verästelungen, aber all diese Charaktere beeinflussen das Leben von Malaika, Naim und Nûr in der einen oder anderen Weise und illustrieren das Leid eines Landes und seiner Menschen, deren Hoffnung auf ein ruhiges Leben immer wieder zunichtegemacht wird. «Hatte nicht auch sie davon geträumt, als einfacher Mensch zu leben? Als Malaika, ohne das Bild mit dem bezaubernden Lächeln, das al-Malak für die Dose <Dattelsirup für die Braut> gemalt hatte? Ohne <Malaika al-Dschanub > zu sein, <Engel des Südens>? Sie hätte gern einfach als Malaika gelebt, nicht wie die Frau in Haruns Geschichten.»
Diese Geschichten vereinen sich in Najem Walis Roman zu einem grossen Ganzen, zu einer beeindruckenden literarischen Reise durch die jüngere Vergangenheit des Iraks. «Das Hauptproblem der Historiker besteht darin, dass sie sich nur für Tatsachen interessieren, während die Schriftsteller die Wirklichkeit wiedergeben wollen», lässt Wali sein Alter Ego Harun schreiben. Seine Annäherung an die Wirklichkeit seines Landes ist ein komplexes, so irritierendes wie fesselndes Stück Literatur geworden, der aufrichtige Versuch, die Vergangenheit des Iraks aufzuarbeiten und sich der Wahrheit hinter Krieg und Vertreibung anzunähern – getreu der Ansicht Harun Walis: «Und so sind es denn auch die Schriftsteller, die die wahre Geschichte von Generation zu Generation überliefern.»
Najem Wali: Engel des Südens. Aus dem Arabischen von Imke Ahlf-Wien. Hanser-Verlag, München 2011. 512 S.