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„Dank dem Erzählen leben wir“

Najem Wali plädiert für die Macht der Literatur

Kann Literatur die Welt besser machen, kann eine schöne Erzählung ein Leben retten? Nein, meinen Skeptiker. Der irakische Schriftsteller Najem Wali versucht den Gegenbeweis.
Neue Zürcher Zeitung, 25. November 2015

Mein Vater pflegte mit Stolz zu erzählen, dass der erste Film, den er in seinem Leben sah, die Adaption von Erich Maria Remarques Roman «Im Westen nichts Neues» war. Er war damals noch ein Knabe, doch der Kinobesuch hat in seinem Leben eine bleibende Spur hinterlassen. Jahre später, als er ins wehrpflichtige Alter kam, hatte er die Wahl, entweder den Militärdienst zu absolvieren oder sich mit einer fixen Summe freizukaufen; obwohl seine Familie einen Kredit aufnehmen musste, um den Wehrpflichtersatz zu bezahlen, wählte er diese Option. Er habe ganz einfach keine Uniform tragen wollen, erzählte er mir später, und zunächst habe er nicht einmal realisiert, dass er mit diesem Entscheid den Einsichten Paul Bäumers, des Protagonisten von «Im Westen nichts Neues», gefolgt sei.

Macht und Ohnmacht
Ich glaube, mein Vater war nicht der Einzige, dem Remarque das Grauen vor dem Krieg und den Hass auf die Uniform eingeimpft hat; weltweit mögen Tausende die Botschaft von Buch oder Film vernommen und verstanden haben. Was nun, wenn die ganze Welt «Im Westen nichts Neues» lesen und beschliessen würde, den Kriegsdienst zu verweigern? Hätte dann nicht das Erzählen die Welt gerettet?

Allerdings konstatierte Erich Maria Remarque selbst einmal, dass die Literatur mit gebundenen Händen und ohnmächtig vor der Katastrophe stehe. Vielleicht drückte sich darin Demut angesichts der Übermacht des Unheils aus, welches das Naziregime wie eine Pest über Deutschland und die Welt gebracht hatte. Aber sicherlich wusste er in seinem Innersten, dass die Botschaft der Bücher, die er schrieb, auch ankommen würde. Sie machten die Wahrheit über das Elend in den Schützengräben sichtbar und zeichneten das Leiden derjenigen nach, die aus der Hölle des Nationalsozialismus und des Krieges flohen – in Darstellungen, die in krassem Gegensatz zur offiziellen Berichterstattung und Propaganda standen.

Natürlich posaunt die Literatur nicht laut heraus, dass sie die Welt verändern wolle; aber anderseits erlaubt sie uns Einsichten, die weit über den Blick auf das im Roman oder in der Erzählung Dargestellte hinausgehen. Und darin besteht ihre Macht. Remarque sagte nicht: Verweigert den Militärdienst; er sagte nicht: Legt die Uniform ab! Stattdessen zeigte er uns den Soldaten Paul Bäumer und dessen Verzweiflung angesichts der Grausamkeit, des Drecks und des sinnlosen Sterbens an der Front. Das ist genug, um den Rest von selbst zu begreifen. Die Nazis wussten sehr wohl, wie gefährlich solche Romane waren: «Im Westen nichts Neues» gehörte zu den allerersten Werken auf der schwarzen Liste jener Bücher, die damals öffentlich verbrannt wurden.

In dem grossartigen Buch «Die Welt von Gestern» erzählt der Schriftsteller Stefan Zweig von der Verwüstung, dem Leid und dem Hunger, die er nach Ende des Ersten Weltkriegs bei seiner Heimkehr aus dem Schweizer Exil nach Österreich gesehen hatte. Er schildert auch seine erste Begegnung mit dem «Feind» in Gestalt einer Gruppe gefangener russischer Soldaten. Ihre deutschen Bewacher, kaum weniger abgerissen und zerlumpt als die Russen, übten ihr Amt keineswegs sonderlich streng aus; sie hockten mit den Gefangenen beisammen, als kennten sie sich seit je, obwohl sie nicht einmal miteinander sprechen konnten. «Man tauschte Zigaretten aus, lachte sich an. Ein Tiroler Landsturmmann holte gerade aus einer sehr alten und schmutzigen Brieftasche die Photographien seiner Frau und seiner Kinder und zeigte sie den ‹Feinden›, die sie einer nach dem anderen bewunderten und mit den Fingern fragten, ob dieses Kind drei Jahre alt sei oder vier.»

Eine ähnliche Szene findet in meinem Roman «Bagdad . . . Marlboro» zwischen dem irakischen Dichter Salmân Mâdi und dem Amerikaner David Barbiero statt – Wächter der eine, Kriegsgefangener der andere, allein miteinander in der Wüstennacht. Was tun sie? Sie erzählen einander Geschichten, rezitieren Gedichte, tauschen Marlboro-Zigaretten gegen die irakische Marke «Bagdad». Das Erzählen lässt die «Feinde» einander näherkommen; der Krieg ist eine Katastrophe, die sie beide getroffen hat und der sie gleichermassen wehrlos ausgeliefert sind – warum also sollen sie einander nicht Geschichten erzählen? Und diese Geschichten machen ihnen klar, dass sie Schicksalsgefährten sind und dass das Erzählen der einzige wirklich heilige Krieg ist – ein Krieg gegen das Vergessen, dass wir Menschen alle gleich sind. So wird die Literatur nicht nur ein Mittel, um die Welt zu retten, sondern auch ein Ort der Verbrüderung und des Friedens.

Kampf um Kopf und Kragen
Auch Scheherazade wusste das, und es gab ihr den Mut, einen Henker zu heiraten – nicht nur, um ihn wieder zum Menschen zu machen, sondern auch, um ihre Schwestern zu retten. Sie sass nicht zitternd zu Hause und wartete, bis sie an der Reihe wäre, dem mörderischen König Schahriar zugeführt zu werden; vielmehr bereitete sie sich auf diesen Tag vor: «Sie hatte alle Bücher gelesen», heisst es, «die Annalen und die Lebensbeschreibungen der früheren Könige und die Erzählungen von den vergangenen Völkern.» Darum konnte sie auf ihren Sieg vertrauen; ihr Schatz waren die Geschichten, die sie sich angeeignet hatte, um den rachsüchtigen Herrscher damit zu umgarnen.

Dass Erzählen manchmal das einzige Mittel ist, um Kopf und Kragen zu retten, habe ich selbst erfahren. Als mein Jahrgang im Oktober 1980 zum Reservedienst einberufen wurde, war der Krieg mit Iran eben ausgebrochen, und meine Einheit stand bereits an der Front. Um nicht einrücken zu müssen, fälschte ich mein Soldbuch mithilfe der Dokumente eines anderen Soldaten, der vorerst zurückgestellt worden war. Jener Kamerad war ein junger, mir bereits bekannter Volksdichter; ich entdeckte ihn in der Warteschlange vor der Kaserne und lotste ihn in ein nahes Café. Dann begann ich ihm Geschichten zu erzählen, erfundene und wahre – Geschichten, die von der Strasse handelten, auf die wir gerade blickten, von der Stadt und ihren Menschen.

Ich wusste, wie sehr er nach diesen Erzählungen gierte, denn er hatte keine Ahnung von der Stadt, und obendrein war er ein junger Mann, der sich an Geschichten berauschen konnte – bis zu dem Punkt, dass er sein Soldbuch im Café vergass. Genau darauf hatte ich von Anfang an spekuliert. Ich hatte ihn zwischendurch ganz nebenbei gefragt, ob ich einmal einen Blick darauf werfen könne, um die Einträge mit meinen zu vergleichen, und ihn dann mit meinen Geschichten trunken gemacht. Nun konnte ich mir den offiziellen Text betreffend die vorläufige Zurückstellung abschreiben und ihn in mein eigenes Soldbuch übertragen; das wiederum erlaubte mir, die Ausreise aus dem Irak zu riskieren. Ich denke aber, dass ich meinem Gegenüber mit den Geschichten auch ein Stück Leben gegeben habe und dass sie den Krieg zumindest für eine Weile in weite Ferne rücken liessen.

Wir begegnen anderen Menschen, und wir realisieren nicht, dass ihre Gesichter wie die Rinde eines alten Baumes sind, in welche die Zeit zahllose Geschichten gegraben hat. Wir lesen nur gerade die eine Geschichte, die uns das Gesicht im betreffenden Moment darbietet; aber nähmen wir uns genügend Zeit, dann würden sich die anderen Geschichten wie von selbst offenbaren.

Vor einigen Tagen, als ich im Zug von Rostock nach Berlin sass, stieg eine Gruppe von etwa zwanzig jungen Männern zu; ein Blick genügte, um zu erraten, dass sie Flüchtlinge waren. Kaum hatte ich einen von ihnen gefragt, woher er stamme und wie er nach Deutschland gekommen sei, scharten sie sich um mich, ihre Gesichter wurden lebhaft, sie erzählten von ihrer Flucht, von der Fahrt übers Meer. Sie waren wie Ertrinkende, die sich an einen Strohhalm klammern: Plötzlich war da jemand, der ihre Sprache redete und der seit Jahren hier lebte, einer, mit dem sie Geschichten über ihre ferne Heimat und über dieses neue, rätselhafte Land austauschen konnten.

Als ich erwähnte, dass ich auch als Journalist tätig sei, entgegnete einer, jetzt habe er endlich den Menschen gefunden, den er seit langem gesucht habe. «Ich bitte dich», sagte er eindringlich und drückte meine Hand, «ich wäre so glücklich, wenn deine Zeitung meine Geschichten abdrucken würde.» Ich musste lächeln, denn ich spürte in seinem Verlangen einen Hunger, einen Durst wie bei einem Menschen, der seit Tagen nichts gegessen oder getrunken hat. «Wenn ich bloss meine Geschichte erzählen könnte», wiederholte er mit abwesendem Blick, als sähe er das ganze Leben vor sich.

Der unsichtbare Reichtum
Machen das nicht auch Kinder so? «Mama, Papa, erzählt mir eine Geschichte!» Das kindliche Verlangen nach Geschichten ist ein Grundbedürfnis, beinah wie das Verlangen nach Nahrung. Und wir sehen, wie die Kinder beim Spielen das Erzählte ins Leben hineintragen, wie sie lernen, sich der Macht der Phantasie zu bedienen. Ein Kind, ein Heranwachsender, dem man den Zugang zur Phantasiewelt verbietet, wird auch in der Realität nicht reüssieren. Ohne Erzählungen und Geschichten wird sein Leben leer und öd bleiben. Ist nicht dies das Geheimnis des Erzählens? Woher kommt seine verführerische Macht, die Erzähler und Zuhörer gleichermassen in Bann schlägt, wenn nicht aus dem Gefühl heraus, dass das, was wir erzählen und hören, sichtbar werden und ins Leben treten kann?

Gabriel García Márquez sagte: «Ich habe gelebt, um zu erzählen.» Und ich sage: Dank sei dem Erzählen, denn es rettet die Welt. Dank sei dem Erzählen, denn es schafft Leben – dank dem Erzählen leben wir.

Najem Wali lebt seit 1980 in Deutschland im Exil. Er ist im Rahmen des NZZ-Podiums zum Thema «‹Die Welt retten› – ein Abend über das Erzählen» am 26. November zusammen mit Nora Gomringer und Peter Bichsel auf der Bühne des Schauspielhauses zu Gast. – Aus dem Arabischen von as.