Kürzlich reiste Najem Wali nach Brüssel, um im «Problemquartier» Molenbeek zwei Lesungen zu geben. Für ihn haben Brüssel und Bagdad mehr als nur den Anfangsbuchstaben B gemeinsam.
von Najem Wali
Neue Zürcher Zeitung, 2. Juni 2016
Schon auf dem Flug wurde klar, dass dies keine Reise war wie alle anderen. Die Zahl der leeren Plätze und die angespannten Gesichter der Passagiere liessen ahnen, dass man sich nicht mehr so einfach in ein Flugzeug nach Brüssel setzt. Und ich als Iraker denke bei einer solchen Gelegenheit unweigerlich an Bagdad. Es ist noch nicht lange her, dass die beiden Städte nur einen einzigen Buchstaben gemeinsam hatten. B. Wie Brüssel. Wie Bagdad. Das ist immer noch so. Aber der Buchstabe hat jetzt noch eine weitere Bedeutung: Bombe.
Nichts ist, wie es war
Kommt man in Brüssel an, ist nichts mehr wie zuvor. Statt in der grossen Flugzeughalle müssen die Passagiere vor einem Eingang bei den Parkplätzen warten, und von dort haben sie eine lange Strecke bis zur Haltestelle des Zuges zurückzulegen. Im Flughafen wie auch bei den Eingängen der Bahnstation und des Brüsseler Bahnhofs sind Soldaten mit Maschinengewehren postiert. In den Strassen zirkulieren Militärfahrzeuge in grosser Zahl, die Brüssel den Anstrich einer Stadt im Kriegszustand geben – besonders wenn man realisiert, wo diese Fahrzeuge früher im Einsatz waren. Es sind Jeeps der Kfor-Schutztruppen, die nach dem Kosovokrieg für Sicherheit im Konfliktgebiet sorgen sollten; die Lettern auf den Türen der Fahrzeuge sind noch immer kenntlich und scheinen jedem Versuch, sie zu entfernen, erfolgreich widerstanden zu haben.Erst Mitte Februar dieses Jahres hatte ich Brüssel auf Einladung des Goethe-Instituts besucht, um im italienischen Kulturzentrum eine Lesung zu geben. Während des zweitägigen Aufenthalts schaffte ich es nicht, Molenbeek zu besuchen, das Quartier, bei dessen Nennung das Wort «Problem» nie weit ist. Aber als ich während jenes Aufenthalts vernahm, dass das Goethe-Institut in Brüssel literarische Lesungen in Privathäusern veranstaltet, schlug ich sofort vor, das Projekt auch nach Molenbeek zu tragen. Die Direktorin begrüsste die Idee – «unter der Bedingung», fügte sie bei, «dass Sie das selber machen».
Fünf Wochen später wurde Brüssel vom Terror heimgesucht. Da fragte mich die Direktorin an, ob ich nach wie vor bereit sei, in Molenbeek zu lesen. «Ja», antwortete ich, «jetzt erst recht.» Zwei Veranstaltungen wurden daraufhin organisiert, die erste vor belgischem und die zweite vor arabischstämmigem Publikum.
Ein Grossteil der Gäste, die dem ersten Abend beiwohnten, verstand Deutsch; zudem waren sie neugierig auf den Schriftsteller, der da extra gekommen war, um in Molenbeek zu lesen. Auch ein gewisses Befremden war ihnen anzusehen, denn der Gast aus Berlin las nicht aus einem Buch, in dem es um Krieg ging, und er setzte auch nicht zu einer Vorlesung über Terrorismus und Religion an. Stattdessen bekamen sie einige Passagen aus «Bagdad: Erinnerungen an eine Weltstadt» zu hören, einem Buch, in dem sich Kindheits- und Jugenderinnerungen des Autors mit der Biografie jener Stadt verflochten.
Eine Stadt des Friedens
Warum das? Sie mussten sich etwas gedulden, bis die Erklärung kam. Bagdad, so erfuhren sie, war einst eine echte Weltstadt, deren historischer Ruhm sich auf die Blüte der Wissenschaften und der Künste gründete. Insbesondere in der frühen Abbasidenzeit, im ausgehenden 8. und im 9. Jahrhundert, war Bagdad ein Mekka für Forscher, Wissenschafter und Studenten aus aller Welt. Damals mischten sich dort Menschen unterschiedlichster Herkunft; weder Denkungsart noch Religion, noch Hautfarbe spielten eine Rolle. Bagdad war ein eigentlicher Schmelztiegel – und aus heutiger Sicht mutet es bitter ironisch an, dass es einst den Namen «Stadt des Friedens» trug. Denn kaum war das geistige Gebäude eingestürzt, auf dem Bagdads Ruhm beruhte, schien sich ein Fluch auf die Stadt zu legen, die zu einem Ort des Todes und der Zerstörung wurde.
Das Bagdad, das aus dem Erinnerungsbuch hervorleuchtete, war nicht mehr als der Traum von einem verlorenen Paradies – einem Paradies, auf dessen Rückgewinnung die Bewohner Bagdads und diejenigen, die es lieben, noch immer hoffen, egal, wie bitter das Leben der Stadt und ihnen selbst mitgespielt haben mag. In dieser Hinsicht ist das Buch auch ein Versuch, die Stadt, in deren Bild sich Reales und Imaginiertes mischen, wieder zu dem zu machen, was sie einst war: einem Ort des Friedens.
Und Brüssel? Ist diese Stadt, deren Bewohner zu über 50 Prozent Zugewanderte sind, nicht auch ein Schmelztiegel für Menschen unterschiedlichster Herkunft? Wer durch seine Strassen, Gässchen und Märkte streift, die Stadt von Nord nach Süd, von Ost nach West erkundet, der wird Menschen unterschiedlichster Denkungsart, Religion und Hautfarbe begegnen. Die Stadt ist ein in die Breite statt in die Höhe wachsender Turm von Babel, und dafür ist sie berühmt. Wenn dieses Gebäude Risse bekommt, dann ist das ein Warnsignal, dem die Bewohner der Stadt dringendst Rechnung tragen müssen.
Ganz Brüssel ist Molenbeek – und statt dieses Quartier nur als Problemzone zu betrachten, könnte man darin auch eine Chance sehen. Könnte sich die Frage stellen, was da falsch gelaufen ist, warum man – wie andernorts in Europa auch, aber hier ganz besonders – Saudiarabien derart freie Hand gelassen hat. Was kommt aus dem Wahhabitenreich und aus den saudisch finanzierten Moscheen (allein in Molenbeek wurden zwei errichtet), ausser Hasspredigten? Die Botschaft der wahhabitischen Ideologie ist der Tod, ihre Macht der Petrodollar, und wenn der Westen seine Beziehung zu Saudiarabien nicht genau überdenkt, dann darf er sich nicht wundern, wenn jene Saat in seinen eigenen Hauptstädten Früchte trägt. Wer den Sumpf austrocknen will, in dem der Terrorismus gedeiht, der sollte zudem den Waffenhandel einstellen, denn Terrorismus und Waffenhandel sind wie siamesische Zwillinge.
Am zweiten Abend las ich vor einem Publikum, das von ganz anderen Fragen und Sorgen umgetrieben war. Gastgeber waren Gawan Fagard und Gwendolyn Lootens, die Gründer des «Cinemaximiliaan» – eines mobilen Kulturprojekts, das Filmvorführungen und andere Veranstaltungen in Flüchtlingszentren und in Wohngebiete bringt, die als Anlaufstelle für Migranten bekannt sind. Die beiden haben auch ihre eigene Wohnung zum Treffpunkt für Kulturinteressierte gemacht; und so fanden sich zur Lesung um die dreissig junge Frauen und Männer aus Syrien, dem Irak, Palästina und anderen Ländern ein. Mehrheitlich waren sie schon seit rund zwei Jahren in Brüssel, aber viele von ihnen warteten noch immer auf ihre Aufenthaltsbewilligung.
Es war nicht nur die Neugier auf den Autor aus Berlin, die sie hergeführt hatte. Alle diese jungen Menschen waren kunstbegeistert, man kochte und sang zusammen, erzählte und diskutierte. Und die Terroranschläge? Ja und? Die meisten zuckten die Achseln, wenn das Wort fiel. Natürlich, sie verstanden die Angst der Belgier, aber sie fanden sie übertrieben. Und dies nicht aus Arroganz oder Blindheit, sondern weil in ihren Herkunftsländern Terror, Krieg und Zerstörung ganz einfach zum Alltag gehören.
Einige von ihnen hatten nach den Anschlägen rassistische Anfeindungen erlebt: Erst vor wenigen Tagen, erzählte einer, hätten Hooligans das Haus attackiert, in dem er lebe; er hatte Glück gehabt, dass er unverletzt davonkam. Die jungen Leute staunten, dass derlei in einem europäischen Rechtsstaat geschehen konnte; aber dennoch fühlten sie sich als Belgier, als Europäer, weil sie hier – wenn auch nur befristet – fern vom Krieg ihr Leben leben durften.
Die auf zwei Stunden angesetzte Lesung dehnte sich am Ende bis nach Mitternacht aus, und das Bild dieser jungen Leute – ihre Freude, ihr Eifer, ihre trotz allen bitteren Erfahrungen bedingungslose Zuversicht –, dieses Bild zeigte ein anderes Gesicht von Brüssel. Durch ihre gelebte Erfahrung und durch ihre jetzige Haltung könnten solche Menschen den Europäern zeigen, wie man in Frieden mit der Gefahr lebt.
Und Molenbeek, das Problemquartier? Molenbeek ist eine Durchgangszone für Neuankömmlinge, die hier am ehesten eine günstige Mietwohnung finden. Macht dies das Quartier nicht zum eigentlichen Schmelztiegel der Stadt, wo sich Menschen unterschiedlichster Herkunft, Nationalität und Religion begegnen?
Ein Spaziergang durch das Viertel macht dies evident: Einheimische und Zugewanderte sitzen an der Sonne und trinken ihr Bier, im Salon des Coiffeurs, dem ich meinen Haarschopf anvertraute, arbeiteten ein syrischer Kurde, ein Algerier und ein Palästinenser, während sich als Kunden – nebst mir und meinem deutschen Kollegen – ein türkischer Unternehmer, ein marokkanischer Lehrer und ein Belgier eingefunden hatten. Ein erstaunlicher Mix. Ein Gutteil der Anwesenden stammte aus Ländern, in denen offene Konflikte oder zumindest ethnische oder politische Spannungen herrschen. «Wir haben unsere Heimat verlassen, um hier in Frieden zusammenleben zu können», sagte einer, als ob er meine Gedanken erraten hätte.
Welche Werte?
Das könnte Brüssel sein – ein Ort jener Versöhnlichkeit, die zu vernichten Ziel des Terrors ist. «Die Terroristen wollen unsere Art zu leben zerstören», heisst es so oft – im Gespräch wie in den Schlagzeilen der Zeitungen, wenn wieder ein Anschlag geschieht. Aber damit ist in der Regel vor allem gemeint, dass wir in Ruhe unseren Champagner trinken, shoppen und essen gehen wollen, als bestünde darin die westliche Lebenskultur – und nicht im Geistesleben, in der Kunst und im bedingungslosen Festhalten an der Vorstellung, dass wir in Frieden miteinander existieren können, egal welche Hautfarbe wir haben, welchem Glauben wir angehören und welche Denkungsart wir vertreten. Wie Bagdad in seiner vergangenen Blütezeit könnte Brüssel eine Stadt des Friedens sein – und dieser Friede ist es wert, dass wir für ihn kämpfen. Nicht nur in Brüssel, sondern in ganz Europa.