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„Charlie Hebdo“ aus arabischer Sicht

Empörung – über wen?

von NAJEM WALI
Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2015

Die arabische Presse befasst sich einlässlich mit den Pariser Attentaten. Aber nur wenige Stimmen verurteilen die Anschläge vorbehaltlos oder pochen gar auf eine Mitverantwortung der arabischen Welt.

«Das Problem, das sich nach der Ermordung der Mitarbeiter von ‹Charlie Hebdo› in erster Linie den Staaten Europas, in zweiter aber auch uns Arabern stellt, ist nicht neu. Es hat mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert im Hintergrund des Schauplatzes gelauert, auf dem sich die Beziehung Europas mit seinen südlichen Nachbarn konstituiert.» So beginnt der liberale kuwaitische Autor Muhammad al-Ramihi einen Artikel, der unter dem Titel «Nach ‹Charlie Hebdo› – und vorher» am 17. Januar in der Zeitung «Al-Sharq al-Awsat» erschien. Jenes Problem steht seiner Meinung nach in direktem Zusammenhang mit einer anderen Frage: Anerkennt Europa den Islam als Religion, sieht es die hier lebenden Muslime als Teil eines modernen Europa, das zur Koexistenz verpflichtet, oder nicht?

Immer ein «aber»
Al-Ramihi ist nicht der Einzige, der den Ball solchermassen Europa zuspielt – in einem Fall, wo es immerhin um die kaltblütige Ermordung von 17 Menschen geht, die den Brüdern Kouachi und ihrem Verbündeten Amedy Coulibaly zum Opfer fielen.

Nach den Pariser Attentaten erschienen vom Maghreb bis zum Golf die Kommentare in der arabischen Presse in solcher Vielzahl, dass im Rahmen eines Zeitungsartikels nicht alle Erwähnung finden können. Häufig wurde in besserwisserischem Ton behauptet, dass der Westen die Schuld am Geschehenen trage – und noch diejenigen, die das Verbrechen verurteilten, vergassen in der Regel nicht, ein «aber» anzuhängen oder darauf hinzuweisen, dass die Karikaturisten durch ihre entstellenden und entwürdigenden Arbeiten so viel Schuld auf sich geladen hätten, dass es nicht leichtfalle, sie in Schutz zu nehmen.

Die in Paris lebende libanesisch-irakische Autorin und Journalistin Nahla Chahal etwa schrieb am 11. Januar in der Zeitung «Al-Hayat»: «Das entsetzliche Gemetzel bei ‹Charlie Hebdo› muss ohne Wenn und Aber und vorbehaltlos verurteilt werden. Nach allen Prinzipien und Wertvorstellungen ist es eine abscheuliche Untat und ein Verbrechen. Es lässt sich – obwohl diese Ansicht derzeit auf Internetforen Konjunktur hat – auch dadurch nicht rechtfertigen, dass die westlichen Staaten, darunter auch Frankreich, ihrerseits Untaten begangen haben und noch begehen.» Da taucht es am Ende zumindest indirekt wieder auf, dieses «aber». Chahal ist zwar bemüht, Verkürzungen und Vereinfachungen zu vermeiden, und sie betont in ihrer Analyse die Verflechtungen zwischen dem Anschlag und den Biografien der Täter. Aber am Ende des Artikels scheint sie die Schuld implizit doch auch den Satirikern von «Charlie Hebdo» zuzuschieben, wenn sie schreibt: «Heute ist ‹Charlie Hebdo› infolge des Attentats quasi sakrosankt; es ist nicht mehr möglich, zu missbilligen, was dort geschrieben wird, oder den Geschmack der Karikaturisten infrage zu stellen, die alles und jedes mit provokantem Spott überziehen [. . .]. Die Seiten etwa, auf denen es um Sex geht, schockieren nicht nur konservative Gemüter ausserhalb Europas, sondern sogar die liberalsten Betrachter in den freizügigsten Gesellschaften.»

Ähnliche Sichtweisen finden sich in den meisten Kommentaren, die in der arabischsprachigen Presse erschienen sind, und zwar besonders bei den als liberal oder links geltenden Intellektuellen, die in den – teilweise überregionalen – Zeitungen der Golfstaaten zu Wort kommen. «Auch wenn wir die islamfeindlichen Darstellungen ausser acht lassen, fand jeder, der nicht ‹Charlie› war, dass die Zeitschrift eine rassistische, fremden- und judenfeindliche Sprache führte, dass sie misogyn, homophob und damit keineswegs das war, was dem Wesen der europäischen und insbesondere der französischen Gegenwartskultur entspricht», schreibt Bisan al-Sheikh am 11. Januar in «Al-Hayat». Manche würden nachgerade bedauern, dass man sich nun doch Mitgefühl und Respekt für die Zeitschrift abnötigen müsse und Kritik an ihr so gut wie verboten sei.

Auch berechtigte Fragen kommen zur Sprache; die wichtigste ist, jedenfalls in den Augen der arabischen Kommentatoren, warum es in Europa und Frankreich Gesetze gibt, die das Leugnen des Holocaust – richtigerweise – unter Strafe stellen und warum Deutschland negative Darstellungen von Juden in den Medien verbietet, während Kritik an den Symbolen des Islams als Ausdruck der Meinungs- und Gedankenfreiheit gelten soll; diesen Punkt sprach etwa Muhammad al-Ramihi im zuvor erwähnten Beitrag an.

Faktisch sind diese Positionen – besonders diejenigen, welche die Islamfeindlichkeit von «Charlie Hebdo» hervorheben und damit implizit den Anschlag in einem gewissen Mass rechtfertigen – nicht neu. Es war zu erwarten, dass in von den Golfstaaten finanzierten Zeitungen eine nach wie vor religiös geprägte Denkweise vorherrscht – und damit eine Zensur, die vielleicht nicht öffentlich, aber verinnerlicht praktiziert wird, vielleicht auch politischer Opportunismus oder schlicht fehlender Mut. Intellektuelle, die täglich mit der Unterdrückung von Meinungs- und Ausdrucksfreiheit konfrontiert sind, flüchteten sich in jenes «aber» und deponierten die Probleme ihrer eigenen Gesellschaften auf der Schwelle des Westens – wenn sie nicht gar, wie es in einigen Fällen zu lesen war, von einer zionistischen Verschwörung raunten, angezettelt in der Absicht, die französischen Juden zur Emigration nach Israel zu bewegen!

Gegenstimmen

Allerdings muss an dieser Stelle auch gesagt werden, dass es neben solchen Stimmen, die den Tenor der Stellungnahmen bildeten, auch vereinzelte Ausnahmen gab – mutige Kommentatoren, vor denen man den Hut ziehen muss. Ihre Beiträge waren insbesondere in «Nawafiz», der wöchentlich erscheinenden Kulturbeilage der libanesischen Zeitung «Al-Mustaqbal», zu finden; dort las man in den letzten zwei Wochen erfrischende Gegenpositionen zu den vorgefertigten und abgedroschenen Reaktionen und den Verschwörungstheorien, die teilweise so weit gingen, die terroristische Natur der Anschläge in Paris und deren Zielsetzung per se in Zweifel zu ziehen.

Auf die mehrfach gestellte Frage, warum an der Marche Républicaine am 17. Januar Millionen Menschen und auch zahlreiche Staatsoberhäupter teilgenommen hätten, während niemand einen Fuss vor die Tür setze, wenn es um die Hunderte oder Tausende von Toten gehe, die etwa die Konflikte in Gaza und Syrien forderten, antwortete dort der Kolumnist Majid Kayali: «Wir können vom Westen nicht etwas verlangen, was wir selbst nicht tun. Wenn wir es als unverdient ansehen, dass der Westen uns punkto Menschenwürde, Lebensqualität und Freiheit weit hinter sich lässt, dann drücken wir damit auch aus, dass es in unserem eigenen Verständnis an diesen Werten mangelt, oder zumindest, dass wir nicht genügend bereit sind, sie zu verteidigen. Das wiederum dezimiert unsere Selbstachtung und folglich auch die Achtung, welche die Welt für uns hat.» Kayali bedauert auch, dass «diejenigen, die diese Frage stellen, es versäumt haben, auch die moralische Dimension der Solidarität mit Frankreich zu bedenken – es geht um eine rein menschliche Geste, die nichts zu tun hat mit Identität, Religion oder Position. Ein Verbrechen ist ein Verbrechen, wie gross oder klein es auch sein mag, und kein Verbrechen rechtfertigt ein anderes, kein Verbrecher kann für die Schuld eines anderen belangt werden. Es ist ihnen auch entgangen, dass die Solidarität mit Frankreich nicht eine milde Gabe ist, sondern ein Gebot von Anstand und Gewissen – und auch Ausdruck eines gefestigten Bewusstseins, das den eigenen Standort, die Welt und die menschlichen Werte begreift. Wenn man die Freiheit und Gerechtigkeit der anderen zu feiern vermag, dann ist das auch ein Triumph der eigenen Freiheit und Gerechtigkeit.»

In ähnlichem Sinn schreibt der Chefredaktor der Beilage, der libanesische Dichter Youssef Bazzi, am 18. Januar: «An dem Mittwoch, als islamistische Terroristen im Herzen von Paris ihr Massaker an den Mitarbeitern von ‹Charlie Hebdo› begingen, reagierte eine für ihre Freundlichkeit und Sanftmut bekannte Landsmännin mit den Worten, das sei eben der Lohn für die Anmassung gegenüber unserem Propheten und die Opfer hätten ‹das Los der Ungläubigen› erlitten. Wenn diese Dame mithin die Terroristen von Paris unterstützt, während sie gleichzeitig tiefes Mitgefühl mit den beim Schulmassaker in Peshawar ermordeten Kindern oder den Opfern Bashar al-Asads äussert, dann zeigt das die moralische Krise auf, in der sich ein Grossteil der muslimischen Gesellschaften befindet. Man lehnt zwar den Terror grundsätzlich ab, aber Gefühle und politisches Bewusstsein lassen sich dennoch ziemlich unmittelbar vom Diskurs des Hasses leiten, den die Vertreter des politischen Islams in den vergangenen Jahrzehnten führten und den die staatlichen Religionsbehörden lieber totschwiegen, als ihm entgegenzutreten.»

Zweierlei Massstäbe

Stimmen wie diejenigen von Bazzi, Kayali und einer Handvoll anderer mutiger Publizisten sind ein Lichtstrahl in der eher düsteren arabischen Presselandschaft. Im Gegensatz zu vielen ihrer Kollegen sehen sie die Attentate von Paris nicht vor dem Hintergrund der Akzeptanz des Islams im Westen, sondern als unser eigenes, tief verwurzeltes Problem – als Auswuchs der Wertordnung, die vom in den arabischen Gesellschaften zunehmend dominierenden politischen Islam gepredigt wird. Wenn eine Karikatur (die schliesslich niemanden umbringt) die «Gefühle der Gläubigen» dermassen angreift, warum lässt es diese dann kalt, dass islamistische Extremisten in Syrien, im Irak, in Nigeria, Pakistan und anderswo unzählige Menschen auf grausigste Art und in aller Öffentlichkeit ermorden? Nicht umsonst verweist Youssef Bazzi auf eben diesen Punkt: «Ist es nicht genau dieses Mitgefühl, an dem es die Welt unserer Meinung nach mangeln lässt, wenn es um unsere eigenen Leiden und Katastrophen geht?»

Der irakische Schriftsteller Najem Wali lebt seit 1980 in Deutschland. Bei Hanser erschien 2014 sein neues Buch «Bagdad . . . Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning», für das ihm der Bruno-Kreisky-Preis zuerkannt wurde. Derzeit weilt der Autor als Stipendiat in der Villa Streuli in Winterthur. – Aus dem Arabischen von as.