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„Gegenwart ist Routine, die vor unseren Augen abläuft.“

von Wolfgang Kühn – 31. Jan. 2012
in der nö. Internetzeitung magzin.at

Der 1980 nach Deutschland geflohene irakische Schriftsteller Najem Wali ist neuer Ateliergast des Literaturhaus NÖ in Krems. Sein Roman “Reise nach Tell al-Lahm” wurde trotz Verbots zu einem Bestseller der arabischen Jugend – mit dem brisanten Thema Sex und junge Frauen im Irak. Wolfgang Kühn sprach mit ihm über seine Bücher und sein Heimatland.

Bagdad - Bild

Der 1956 im südirakischen Basra geborene Schriftsteller Najem Wali, der 1980 aus dem Irak nach Deutschland floh, ist zur Zeit Ateliergast des Literaturhaus NÖ (UNLNÖ) in Krems. Für ihn ein willkommener Ort, um Zeit und Ruhe zu finden, ideal, um an seinem neuen Roman zu feilen, der im Frühjahr 2013 bei Hanser unter dem Titel „Bagdad Marlboro” auf Deutsch erscheinen soll.

Krems, diese Liebe zum Wein
Auch die Umgebung von Krems hat es ihm angetan. Aus seinem Fenster blickend haben ihn die Lichter von Stift Göttweig neugierig gemacht und auf den Berg gelockt, auch Stift Melk hat ihn fasziniert. Najem Wali hat herausgefunden, dass ein alter marokkanischer „Literaturgenosse“ namens Muhammad al-Idrisi (1099 – 1165), seines Zeichens Verfasser eines der wenigen interessanten Reisetagebücher der Welt, Krems interessanter fand als Wien. Vor allem die Menschen und die Architektur haben ihn beeindruckt, dem kann sich Najem Wali nur anschließen, Architektur und die Menschen, die aus ihrer Liebe zum Wein kein Hehl machen.

Die englischen Besatzer von Basra – der Roman „Engel des Südens”
In seinen Büchern geht es verständlicherweise um seine Ver­gan­gen­heit, seine eigene Geschichte. Kann er sich vorstellen, einmal ein Buch völlig los­gelöst von diesem „persönlichen“ Kontext zu schreiben? 

„Es gibt meines Wissens kein Buch, das frei von persönlichen Anliegen ist. In meinen Büchern wird die Vergangenheit durch die Gegenwart beschworen!“ Wie auch in seinem jüngsten Buch „Engel des Südens“ (Hanser 2011), in dem der Erzähler nach dreiundzwanzig Jahren in seine Heimatstadt Basra zurückkehrt und eine Ausstellung besucht, die von Engländern organsiert wurde. Es geht um die Geschichte der Stadt und um die Besetzung durch die Engländer, also so wie die Menschen in der Gegenwart leben.

Najem Wali im Literaturhaus NÖ

„Aber ich weiß, was du meinst – das Leben im Exil, in Deutschland! Ge­schich­te erzählen hat immer einen Aus­gangs­punkt in der Ver­gangen­heit. Wenn man anfängt etwas zu erzählen, ist das Geschehene schon vergangen, daher benutzen wir beim Erzählen das Präteritum, auch wenn einigen Autoren den Präsens benutzen wollen. Ich glaube immer, dass die Vergangenheitsform für das Erzählen interessanter ist. Thomas Mann sagte einmal, man braucht mindestens fünf Jahre Abstand, um über ein Ereignis erzählen zu können. Ich glaube, je mehr Abstand besteht, umso interessanter ist es, aus einfachen Gründen: Menschen nehmen ihre Gegenwart nie wahr. Gegenwart ist Routine, die vor unserem Auge abläuft.“

Der Wandel des Irak – ein kompakte Frage
Auf die Frage, wie sehr sich der Irak des Jahres 1980 vom heutigen Irak unterscheide, meint Najem Wali, dass das eine sehr kompakte Frage sei, die man nicht in ein paar wenigen Sätzen beantworten könne. Daher empfiehlt er – nicht ganz uneigennützig – seine Bücher zu lesen, denn diese zeigen mit jeweils ein paar Jahren Abstand, wie sehr sich das Land geändert und entwickelt hat. „Ich überlasse es den Lesern, sich ein Urteil zu bilden.“

Seit seiner Flucht war er drei Mal im Irak. Das erste Mal im September 2002 ist er illegal über die syrische Grenze nach Kurdistan, das war noch vorm Sturz von Saddam Hussein. Die anderen beiden Male im Jänner 2004 und Ende 2010 / Anfang 2011. Ohne diese Reisen hätte er seine letzten Bücher nicht schreiben können, weder „Jussifs Gesichter“, noch „Engel des Südens“, noch den neuen Roman „Bagdad Marlboro“, der im Frühjahr 2013 auf Deutsch erscheinen wird.

Ob er den Lebensabend in seiner irakischen Heimat verbringen möchte, kann er schwer sagen. Das hänge von der Zukunft ab und vor allem von der Frau, mit der er dann zusammen sein werde. Aber den Lebensabend mit einer Frau zu verbringen, erscheint ihm jedenfalls besser und wichtiger – egal, wo die Frau auch leben mag.

Ein verbotenes Buch als Bestseller – „Die Reise nach Tell al-Lahm”
Der 2004 bei Hanser erschienene Roman „Die Reise nach Tell al Lahm“ war lange Zeit in mehreren arabischen Ländern verboten und avan­cie­rte dennoch zum Bestseller. Sein Inhalt: Als Najem von der kuwaitischen Front nach Hause zurückkehrt, empfängt ihn seine Nachbarin mit der Nachricht, seine Frau sei mit ihrem Mann durchgebrannt. Sie verführt ihn zu einer gemeinsamen Reise quer durch den Irak bis in die geisterhafte Stadt Tell al-Lahm. Auf dem Weg dorthin enthüllt der Erzähler nach und nach die Lebens- und Liebesgeschichten seiner Figuren und zeigt uns ein von der Diktatur und zwei Kriegen gezeichnetes Land.

Brisantes Thema: junge Frauen und Sex im Irak
Das Buch ist, wie Najem Wali meint, deshalb so brisant, weil es hauptsächlich um die Doppelmoral und die Frauenproblematik geht, sprich die Sache mit der Jungfräulichkeit in den arabischen Ländern und den Umgang damit, der so wichtig für die Männer und für die Gesellschaft ist. Es geht um Mädchen, die vor der Ehe Sex haben und dann ihre Jungfräulichkeit in halbillegalen Arztpraxen quasi „zu­sam­men­fli­cken“ lassen. Das Buch ist aus diesem Grund bei vielen Jugendlichen begehrt und bis heute sehr gefragt und wird laufend neu aufgelegt, weil gerade Mädchen aus den Golfländern sich darin wiederfinden.

Die Österreicher – weniger direkt und „schicksalsergebener” als die Deutschen
Najem Wali lebt seit über dreißig Jahren mit Unterbrechungen in Deutschland, konnte auch Österreich schon etwas kennenlernen. Welche Unterschiede sind ihm zwischen diesen beiden Ländern bzw. ihren Einwohnern auf­ge­fal­len?

„Oh weia, Du stellst mir Fragen! Ich versuche mich vor Pauschalisierungen zu hüten, trotzdem finde ich – basierend auf meinen Beobachtungen und ohne Gewähr – dass es vor allem den Unterschied gibt, dass die Deutschen direkter sind als die Österreicher. Die Österreicher verschlucken mehr, verinnerlichen mehr, kommen mehr auf Umwegen zur Sprache, wogegen die Deutschen viel direkter sind. Auch sind die Österreicher mehr schicksalhafter, schick­sals­er­ge­bener, die Sachen laufen irgendwie, die Deutschen sind da viel rationaler.“

Die Österreicher wären durch ihre Identitätsmischung („ein richtiger Wiener ist ein Böhme“) aber auch interessanter, übt sich Najem Wali abschließend in fishing for compliments.

Auf die Frage, was sein neuer Roman enthält, der im Frühjahr 2013 bei Hanser erscheinen wird, weicht Wali aus. Über den Inhalt möchte er noch nichts verraten …

Najem Wali las am 31. Jänner 2012 im SALON DEPENDANCE OST im Buchkontor in Wien

Der jüngste Roman, „Engel des Südens“, ist fesselnde, irritierende und packende Literatur, der „aufrichtige Versuch, die Vergangenheit des Iraks aufzuarbeiten und sich der Wahrheit hinter Krieg und Vertreibung anzunähern.“ (NZZ)


Der Artikel ist veröffentlicht in der nö. Internetzeitung magzin.at: unter der URL: http://www.magzin.at/gegenwart-ist-routine-die-vor-unserem-auge-ablaeuft-najem-wali-irakischer-schriftsteller-als-literaturgast-in-krems/13864 Copyright © 2010-2014 • magzin.at – moderne region. Alle Rechte vorbehalten.