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Die Angst vor dem Schrei

Ein weiter Weg: Najem Wali erzählt von „Saras Stunde“

F.A.Z. – Literatur und Sachbuch, 06.03.2018 100
von Lena Bopp

Zuletzt war aus Saudi-Arabien manch Gutes zu hören. Vom kommenden Sommer an soll es Frauen erlaubt sein, Auto zu fahren. Fürs Frühjahr wurde die Eröffnung des ersten Kinos angekündigt. Und schon vor einigen Wochen trat die libanesische Sängerin Hiba Tawaji beim ersten Popkonzert für Frauen in Riad auf. MBS, wie der Kronprinz Mohammed Bin Salman genannt wird, scheint es ernst zu meinen mit der angekündigten Modernisierung des Landes, die neben wirtschaftlichen manch heikle gesellschaftliche Felder betrifft.

Hierzulande erscheint in diesen Tagen allerdings ein Roman, der den guten Nachrichten aus Saudi-Arabien misstraut. Najem Wali, 1956 im Irak geboren und in den achtziger Jahren nach Deutschland ausgewandert, hat mit „Saras Stunde“ ein Buch geschrieben, in dem Saudi-Arabien als jenes „Königreich der Finsternis“ beschrieben wird, von dem spätestens seit den Terroranschlägen vom 11. September viel die Rede war. Mag sein, dass seine Protagonistin Sara auf eine Schule gehen darf, in der die Mädchen von den Jungen zumindest in den ersten Schuljahren nicht getrennt sind. Und dass man ihr gestattet, mit ihrer Freundin Alhanuf durch das Loch im Schulhofzaun zu entwischen, um sich im benachbarten Garten niederzulassen. Aber all die Nachsicht, die Saras Vater, ein im Kuweit-Krieg zu Reichtum gekommener Spediteur, seiner Lieblingstochter gewährt, schützt sie nicht vor den konservativen Kräften in ihrem Land… Das Ringen von Tradition und Moderne, von wahhabitischer Strenge und westlicher Liberaliät kommt im Roman von Najem Wali zwar als Familienangelegenheiten daher. Der Erzähler lässt wenig Gelegenheit aus, Sara als besonderes Mädchen zu skizzieren, als eine, die nicht etwa stillhält, wenn der Scheich von der „Behörde zur Verbreitung von Tugendhaftigkeit und der Verhinderung von Lastern“ eine nicht enden wollende Predigt hält – sondern als eine, die aufsteht und anfängt zu schreien. Allerdings ist sie nicht die einzige, die sich widersetzt. Auch andere Frauen tun das, ihre Freundin Alhanuf beispielsweise und ihre Tante, die nicht zufällig ebenfalls Sara heißt. Sie alle sind bereit, für ihren Wunsch nach Individualität sehr weit zu gehen. So weit, dass sich auch der Roman, der als Bildungsroman beginnt, allmählich zu einer Phantasie über die umstürzlerische Kraft der Frauen weitet und über die Furcht der saudischen Männer vor ihnen.

Wie viel Wirklichkeit steckt in dieser Phantasie? Das ist die Frage, mit der Najem Wali sein Spiel treibt. Vor allem im Nachwort seines Buches, das die Fiktionalität alles zuvor Erzählten in Zweifel zieht. In diesem Nachwort reklamiert ein gewisser Harun Wali, der als Ich-Erzähler schon im Roman „Engel des Südens“ (2011) auftrat und den Najem Wali seinerzeit als sein Alter Ego bezeichnete, die Autorschaft von „Saras Stunde“ für sich. Er habe, schreibt er, Sara vor ein paar Jahren bei einer Lesung in Saudi-Arabien getroffen, bei der sie ihm ihr Notizbuch zusteckte, verbunden mit der Bitte, er möge eines Tages ihre Geschichte erzählen. Manche Leerstelle in diesem Notizbuch habe er natürlich füllen müssen. Das Gerüst aber stamme von ihr. Oder trügt ihn die Erinnerung? „Ja“, heißt es später, „es beschlich mich sogar das sonderbare Gefühl, dass ich zweifelte, dich überhaupt jemals getroffen zu haben. Und dass das, was ich aufgezeichnet in dem kleinen schwarzen Notizbuch von Moleskine las, ganz allein meine Worte waren, etwas, das ich ersonnen hatte, und mehr nicht.“

Dieses Vexierspiel, das typisch ist für Najem Wali, umhüllt den Roman mit einem rätselhaften Schimmer von Authentizität, der ihm gut steht, weil er ja von Biographien erzählt, die besonders westlichen Lesern unvorstellbar scheinen mögen. Der materielle Überfluss, in dem Sara aufwächst – mit den zig Angestellten im Haus ihrer Eltern, ihrem vom Vater bezahlten Appartement in London, dem endlosen Shopping –, steht in krassem Gegensatz zu dem Mangel an Möglichkeiten, den sie in entscheidenden Lebensfragen hat. Dieser Widerstreit prägt ihr Leben. Um ihn aufzulösen, müsste sie ihn intellektuell durchdringen, aber dazu sind ihr die Mittel nicht gegeben. Wie auch, da sie in eine arrangierte Ehe einwilligte, als sie sechzehn war, und das nur, um Schlimmerem zu entgehen. Sara bleibt beeinflussbar und verträumt. Und so führt sie der einzige Ausweg in eine andere Form von Isolation.

Najem Wali zeichnet diesen Weg mit einer Konsequenz nach, die wegen seines elegischen, von einem schicksalhaften Raunen (und einigen Längen) durchzogenen Stils immer harmlos wirkt. Doch zugleich vermittelt das ein gutes Gefühl für die Unerbittlichkeit der Verhältnisse, in denen Sara aufwächst. Dafür, wie mächtig die Kräfte sind, denen sie ausgesetzt ist. Und auch eine Ahnung dafür, wie weit der Weg ist, der ihren Töchtern zu gehen bleibt.
Lena Bopp F.A.Z. – Literatur und Sachbuch DIENSTAG, 06.03.2018