Viele Flüchtlinge kommen mit zu hohen Erwartungen nach Deutschland, sagt Exilschriftsteller Najem Wali. Doch auch die Deutschen müssten sich um ein Miteinander bemühen.
von Markus Bickel
ZEITonline, 23. Februar 2016
Integration ist wie Kindererziehung: ein Haufen Mühe, unendlich Geduld und keine schnellen Erfolge. Das sagt Najem Wali, der aus eigener Erfahrung weiß, wie mangelnde Sprachkenntnisse und Ausschluss vom Arbeitsmarkt Neuankömmlinge rasch zu Außenseitern abstempeln können.
Mehr als ein halbes Leben ist es her, dass der irakische Exilschriftsteller dem Krieg entkam – damals dem seines Geburtslandes gegen den Iran. 24 Jahre jung war Wali, als er im November 1980 in Deutschland eintraf, getürmt über die Grenze zur Türkei, so wie Hunderttausende heute.
Dreieinhalb Jahrzehnte später schaut er sich deshalb jedes Mal selbst ins Gesicht, wenn er in den Straßen Berlins auf junge Männer trifft, die vor den Kämpfen im Irak und Syrien geflohen sind. Doch was die Mehrheit derNeuankömmlinge ausmache, sei nicht der Geist, der ihn damals getragen habe. „Sie sind mir fern, weil sie mit so vielen Erwartungen kommen“, erklärt er nüchtern. „Viele sind schockiert, wenn sie hören, dass sie hier nicht studieren oder arbeiten dürfen.“ Ihm hingegen sei 1980 klar gewesen, dass „ich null bin und bei null anfangen muss“. Alles, was er sich nach seiner Flucht ins sichere Deutschland gewünscht habe, war, „frei zu sein und meine Persönlichkeit durchzusetzen“.
Nur durch ein Wunder war Wali wenige Monate zuvor den Folterschergen Saddam Husseins entkommen. Jene sechs Wochen im Gefängnis in Bagdad hätten ihn stark, dankbar und bescheiden gemacht für den harten Start ins neue Leben in der Fremde.
Dieser Realitätssinn aber gehe vielen Geflüchteten ab, beklagt Wali – freilich ohne ihre Entscheidung infrage zu stellen, der umkämpften Heimat den Rücken zu kehren. „Jeder Mensch hat das Recht auf ein besseres Leben“, sagt er. „Zweiklassenmenschen gibt es nicht.“ Deshalb sei es auch ein politisches Versäumnis, dass nicht längst ein Einwanderungsgesetz verabschiedet wurde, welches Migranten ermögliche, auf die gleiche Weise einen Aufenthaltsstatus in Deutschland zu erlangen wie deutsche Auswanderer beispielsweise in Neuseeland. So sorgten Missverständnisse und Versäumnisse auf beiden Seiten dafür, dass der Eingliederungsprozess stocke. Auf den unterschiedlichsten Ebenen.
Vor ein paar Tagen etwa habe er zwei Landsleute getroffen, die aus ihrer Asylbewerberunterkunft im weißen Ostberlin ins multikulturelle Kreuzberg gekommen waren, weil hier eine irakische Zahnärztin praktiziert, erzählt Wali. Als sie ihn im Wartezimmer um Rat für baten, nahm er kein Blatt vor den Mund: „Zu Hause wart ihr Paschas, hier werdet ihr nichts sein“, sagte er den beiden Männern ins Gesicht. Die einzigen Gewinner ihrer Flucht seien ihre Kinder. Diese würden Deutsch lernen, Selbstbewusstsein tanken und ihnen rasch den Rang ablaufen. „Du bist sehr hart“, habe der Jüngere erwidert. So sei das aber, gab Wali zurück.
Als „aufklärerische Arbeit“ bezeichnet er den langen Integrationsprozess, bei dem die Neuankömmlinge wie Kinder an die Hand genommen werden müssten. Woher sollten sie schließlich wissen, was in der deutschen Verfassung stehe? Wie die Werte der fremden Umgebung kennenlernen, wenn man sie ihnen nicht mit Engelsgeduld nahebringe? Dass das die deutsche Gesellschaft „viel Arbeit und Mühe kosten“ werde, sei klar. „Aber diese Mühe lohnt sich, weil wir uns dadurch selbst besser kennenlernen und außerdem geduldiger und menschlicher werden.“
Vor allem die Kinder dürfe man auf diesem langen Weg nicht aus den Augen verlieren. „Sie sind ein Schatz für dieses Land, in dem die Bevölkerung schrumpft, und eines Tages werden sie Einzahler in die Sozialsysteme sein.“ Natürlich gehe das nicht von heute auf morgen vonstatten, sondern rechne sich erst in Jahren. Aber statt die von vielen als epochal empfundene Flüchtlingskrise als „Gelegenheit“ zu begreifen, die Schwachstellen des eigenen Systems anzugehen, richteten die etablierten Parteien ihre Politik populistisch nach den Parolen der Alternative für Deutschland (AfD) aus, kritisiert Wali.
Deshalb greife auch Angela Merkels Satz „Wir schaffen das“ zu kurz. „Um es zu schaffen, müssen wir neue Strukturen schaffen – dazu gehören mehr Stellen in den Ausländerbehörden und mehr Sozialwohnungen.“ Nicht nur für die Flüchtlinge übrigens. Eigentlich sei es unfassbar, dass eine so reiche Nation wie Deutschland nicht in der Lage sei, der Bevölkerung genügend bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung zu stellen.
Patentrezepte hat aber auch Wali nicht. Ob Integration am Ende gelinge, hänge schließlich immer von persönlichen Erfahrungen ab. Er selbst habe den Anschluss nur deshalb geschafft, weil er von Anfang an über „zwei Heimaten“ verfügte – neben der Erinnerung an die vertrauten Orte und Menschen im Irak die deutsche Sprache. „Ich bin ein Sonderfall, weil ich mich schützen konnte durch die deutsche Literatur.“
Während des Germanistikstudiums in Bagdad in den Siebzigern hatte er sich so sehr in die Werke deutscher Schriftsteller vertieft, dass sie ihm später gegen Anfeindungen und Ausgrenzungen halfen. „Das ist nicht Deutschland“, habe er sich oft gesagt, wenn er wieder einmal angepöbelt wurde, und sich dann in die Werke seiner Lieblingsautoren geflüchtet.
Flucht aus dem Land von tausendundeiner Diktatur
Auch deshalb hat Wali sich so gefreut, als der Börsenverein des deutschen Buchhandels ihn Anfang Februar in die Jury für die Vergabe des diesjährigen Buchpreises aufnahm. Eine „wunderbare Geste“ sei das. Und eine Öffnung hin zu den vielen Außenseitern, die längst ebenso Teil der Gesellschaft seien wie jene Deutschen, die immer noch nicht wahrhaben wollten, dass das Land sich gewandelt habe seit den Tagen der Anwerbung südeuropäischer Gastarbeiter vor einem halben Jahrhundert.
Nicht durch Anpassungsdruck an vermeintlich deutsche Werte hätten diese den Anschluss geschafft, ist er sich sicher, sondern dank der Freiheit, durch eigene Anstrengung ihren Platz in Deutschland zu finden.
Anekdote über Anekdote aus seinen Anfangsjahren kann Wali erzählen und herzhaft darüber lachen, wie nur ein Zufall darüber entschied, dass man ihn nach zwei Aufenthalten in Abschiebehaft doch nicht in das „Land von tausendundeiner Diktatur und tausend und mehr Kriegen“ zurückschickte.
Unter Saddam Hussein war er Ende der Siebziger inhaftiert und über Wochen gefoltert worden. Traumatisiert von der Zeit in der überfüllten Zelle habe er deshalb danach die Tür seiner ersten Hamburger Wohnung immer offengelassen. Auch dann noch, als ihn sein Vermieter darauf hinwies, dass er die Heizosten damit enorm in die Höhe treibe. Vier Jahre lang, bis zu seiner Anerkennung als Asylbewerber 1984, sei er jedes Mal zusammengeschreckt, wenn er eine Sirene heulen hörte.
Los lässt der Krieg keinen, der ihn überlebt hat, zumal nicht im Irak, wo immer neue die vergangenen ablösen. Entsetzt habe er von seinen beiden Landsleuten, die er vergangene Woche beim Zahnarzt traf, erfahren, dass sie in ihrem Asylbewerberheim nicht selbst kochen dürften, sagt Wali. Ein ganzes Bündel kurdisches Fladenbrot besorgten sie sich deshalb in Kreuzberg, um zumindest auf diese Weise ein Stückchen Heimat in ihre kahle Ostberliner Unterkunft zu bringen.
Eine Armlänge Abstand zu arabischen Männern
„Fremdheit schlägt auf den Magen“, zitiert er Che Guevara und schüttelt den Kopf über die deutsche Aufnahmepolitik. Unentschieden trete sie auf der Stelle, unfähig zu differenzieren zwischen Asyl und Einwanderung. Dadurch sei eine „Grauzone“ entstanden, die Integration erschwere. Als „Kanonenfutter für die Politiker“ müssten die Geflüchteten so herhalten, und das in einer Atmosphäre, wo Union, SPD und selbst die Grünen aus Angst vor einem weiteren Erstarken der AfD immer weiter nach rechts abdrifteten.
Leichter als früher hätten es die Neuankömmlinge aller Willkommenskultur zum Trotz auch deshalb nicht, weil Hindernisse dazugekommen seien, mit denen Wali bei seiner Ankunft in den Achtzigern nicht konfrontiert war. „Für die Frauen war ich Omar Sharif“, sagt er. Doch inzwischen sei das arabische Männerbild von Saddam Hussein und Osama bin Laden geprägt. Und natürlich: von den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht. „Bitte eine Armlänge Abstand“, sagt er lachend beim Abschied. „Sonst gibt’s einen Kurzschluss.“