Die Dichtung fälscht. Aber was sie stark macht ist, dass sie uns das sagt und nicht verheimlicht. Damit siegt sie immer. Die Dichtung ist die Fälschung der Fälschung, die vor unseren Augen abläuft. Alles im Leben steht auf dem Kopf. Die Dichtung stellt es richtig: Auf die Füße… Und genau dadurch geht das Leben weiter. Das sagen uns die Dichter, egal, wo sie sind und wann sie lebten. Darum beginnen meine Reisen, egal wohin, mit der Suche nach den Dichtern, nach den toten und nach den lebenden. Meine literarische Expedition durch Zentralamerika ist da nicht anders.
Auf den Fotos mit NW: Sergio Ramírez in seinem Büro in Managua; Gioconda Belli im Cultural Center Pablo Antonio Cuadra in Managua; der salvadorianische Dichter Manlio Argueta, Direktor der Nationalbibliothek im historischen Center von San Salvador; NW alleine im Casa Museum von Rubén Darío, einem der wichtigsten Dichter Lateinamerikas. Sein Porträt hängt über NWs Kopf.Es lebe die Dichtung!
Es leben die Dichter!
Vor der Universität Autonoma in San Salvador steht das Denkmal des großen Dichters Roque Dalton, der Gründer der Guerilla Bewegung Farabundo Martin war, die jetzt an der Macht ist. Dalton wurde von seinen Genossen fälscherweise als CIA Agent verdächtigt und ermordet.
Im Café de los Poetas: Das Café der Dichter liegt im historischen Viertel von San Salvador im Herz der Stadt und in einer der gefährlichsten Zonen von Zentralamerika. Trotzdem treffen sich die Dichter dort. Sie lassen sich nicht einschüchtern.
Im Haus des großen nicaraguanischen Dichters Ernsto Cardenal in Managua. Leider war der neunzigjährige krank und nicht zu sprechen. Seine Skulpturen sprechen für sich.
Nicaragua Agua Fuego
Vier Tage war ich in Managua, sieben in Nicaragua insgesamt und davon zwei in León, einer Provinzhauptstadt im Nordwesten. Es war die Einladung des Goethe Instituts in Kooperation mit dem PEN-Club Nicaragua, die mich auf die Reise in diesen Teil der Welt gelockt hat, für deren Organisation ich Sven Mensing vom Goethe Institut Mexico danken möchte.
In Managua fanden in diesem Rahmen zwei große Veranstaltungen statt. Eine davon war eine Diskussionsrunde über die „Freiheit der Expression“, die Carmen Aristegui (Investigative Journalistin aus Mexico und Journalistin für CNN), Josef Haslinger (Autor und Präsident des PEN-Club Deutschland), Miguel Huezo Mixto (Schriftsteller und UNO Mitarbeiter aus El Salvador), Carlos Fernando Chomoro (Herausgeber der Pressegrupp la Prensa aus Nicaragua), Gioconda Belli (Schriftstellerin aus Nicaragua) und ich, moderiert von Lutz Kliche, bestritten. Die andere war eine Lesung im El Instituto Nicaragüense de Cultura Hispánica in Managua, bei der ich Auszüge aus der spanischen Übersetzung von „Bagdad… Marlboro“ las und diskutierte.Und was machte der Marinero sonst in Managua?
Jamaika und die WM-Qualifikation
Wer hätte das gedacht? In der Lobby des Hilton Hotel Managua traf ich am 7. September Winfried Schäfer, den Coach von Jamaikas Nationalmannschaft. Ich sagte ihm, ihr werdet das Spiel morgen gewinnen. Und das kam dann auch so. Am nächsten Abend hat Jamaika gegen Nicaragua im Heimspiel 2:0 gewonnen. Das Geheimnis? Ich glaube, ich habe es gehört. Die Mannschaft wohnte in der dritten Etage, wo auch mein Zimmer 306 war. Um 17 Uhr, 2 Stunden vor dem Spiel, haben sie mich aus meiner Siesta gerissen mit ihrer lauten Musik. Nein, es war kein Reggie. Es war einfach unglaublich laute Tanzmusik!
Un país güegüense

UNO NO ESCOGE
Uno no escoge el país donde nace;
pero ama el país donde ha nacido.
Uno no escoge el tiempo para venir al mundo;
pero debe dejar huella de su tiempo.
Nadie puede evadir su responsabilidad.
Nadie puede taparse los ojos, los oídos,
enmudecer y cortarse las manos.
Todos tenemos un deber de amor que cumplir,
una historia que nacer
una meta que alcanzar.
No escogimos el momento para venir al mundo:
Ahora podemos hacer el mundo
en que nacerá y crecerá
la semilla que trajimos con nosotros.
Gioconda Belli
Something unexpected crossing borders

Last Sunday, it happened to be the 6th of September, we took the bus from San Salvador to Managua. I could not believe how easy it was to cross three borders within 2 hours. Thanks to the german passport, I admit.
If only more people, if only every human being could cross borders in such a nice and easy way! But I am worried that this is just the dream of a crazy marinero en tierra.

Breakfast in San Salvador

3. September, San Salvador
Guatemala City – First Days in Central America
Guatemala City hat mich verschluckt. Die wenigen Tage gingen ineinander über. Was war zuerst? Was kam danach? Ich weiß es nicht mehr. Gut, wir hatten Jetlag und am ersten Mittag habe ich mit drei Schriftstellern so viel Chili und anderes, unsagbar Scharfes gegessen, dass mir der Abend nicht mehr ganz erinnerlich ist.
Am nächsten Tag die ersten Schritte durch die Stadt, ein leeres Viertel, lost in the City. In der angeblich gefährlichen Zona 1 wandelten wir ohne Angst, immer wieder verharrend in herzlichen Gesprächen mit den Menschen auf der Straße. Ein andermal die Begegnung mit dem Verleger Raul Figuerroa Satri, unser gemeinsames Essen mit meinem Weggefährten Lutz Kliche im spanischen Restaurant „La Mezquita“.
Und die Visite in der Biblioteca National? Ein unglaublicher Schatz. Ein paar Blocks weiter Demonstrationen. Mittendrin sind wir zu einem Treffen mit guatemaltekischen Schriftstellerinnen in einer Buchhandlung verabredet. Nur mehr mildes Essen, dafür scharfe Diskussionen. Die Stadt, in der das Volk so lange protestiert hat, bis sein korrupter Präsident zurück getreten ist, saugte mich auf mit ihrem Jubel und der Hoffnung auf eine neue Politik.
1. September 2015, Guatemala City
Was für eine historische Nacht in Guatemala City!
What a Historic Night in Guatemala City!
Que Noche historica en Guatemala City!
أية ليلة تاريخية في غواتيملا سيتي

„Egal, wo Du hingehst, passiert irgendwas Großes“, sagt die Freundin. Und immer hat sie Recht. Diesmal ist es in Guatemala City passiert. Am 1. September 2015 ist der Präsident von Guatemala vom Parlament gestürzt worden wegen Korruption, Narco Traffic und Mord. Dienstagabend sind die Leute auf die Straße gegangen, um zu feiern. Ich habe mit ihnen vor dem Republik Palast gefeiert. Was für eine historische emotionale Nacht!
“Wherever you go something great will happen.”, says the girlfriend. All the time she is right. This time it happened in Guatemala City. The President of Guatemala was thrown out by the Parliament on September 1st accusing him of corruption, narcotraffic and assignation. On the evening of this historic first September the people went on the street to celebrate. I shared with them the moments in the main Place front of the Republic Palace. What a historical emotional night!

“Igual a dondete vayes se succedia algo grande”, dijo la compañera. Siempre tiene razón. Está vec se ha succido en Guatemala City. El Presidente de Guatemala se ha caido por el parlamento en 1 September 2015 acusado de corruption y Trafico de droga y assino. La jente salió a la calle celebranod el asunto. Yo celebré con illos frente del Palacio de la republica. Que noche hostorica y emotional.
„أينما ذهبت، يحدث حدث كبير„، تقول الصديقة. دائماً هي على حق. هذه المرة حدث في غواتيمالا سيتي. رئيس غواتيملا سقط بعد تصويت البرلمان برفع الحصانة عنه وتقديمه للمحكمة بتهمة الفساد والرشوة وتجارة المخدرات والتقل. الناس خرجت للشارع مبتهجة في يوم الثلاثاء الماضي. أحتفلت معهم في الليل أمام القصر الجمهوري.
Centro Cultural de España in San Salvador
Marinero en tierra
Najem Wali ist im September auf literarischer Expedition durch Zentralamerika. Sergio Ramírez, Gioconda Belli, Francisco Goldman, Vanessa Nuñez Handal, Óscar Castillo Rojas, Fernando Contreras Castro und andere, haben angekündigt seinen Weg zu kreuzen.
Najem, der Marinero en tierra, meldet sich demnächst mit Erzählungen aus Guatemala, El Salvador, Honduras, Nicaragua, Costa Rica und Panama.
Deutschlandradio Kultur – Lesart
„Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt“
Lesart. Das Literaturmagazin.
Barbara Wahlster im Gespräch mit
Najem Wali über sein neuestes Buch.
01.09.2015 | 17:03 Min. | Deutschlandradio Kultur
Beitrag anhören
nordwest radio
„Bagdad -Erinnerungen an eine Weltstadt“
Das jüngstes Buch von Najem Wali ist soeben erschienen. Ein Untergangstitel – und einer, in dem ein endgültiger Verlust mitschwingt. Aber mitten im Chaos und in den Untergangszenarien sorgen Walis Erinnerungen dafür, dass wir die orientalische Metropole vergangenen Tage noch einmal mit allen fünf Sinnen aufnehmen können. Ein schrecklich-schönes Leseerlebnis – meint Katrin Krämer am Sonntag, 23. August 2015. Beitrag anhören.
NDR Kultur – Klassik à la Carte
„Bagdad – Erinnerungen an eine Weltstadt“

Die Erinnerungen an die Metropole, die Bagdad einst war, gehen mit jedem Krieg mehr verloren.
Der Schriftsteller Najem Wali aber hält am Sehnsuchtsort seiner Kindheit fest.
Autorin: Stefanie Groth
24.08.2015 – 13:00 Uhr, Beitrag anhören.
Das Verbrechen heißt Ignoranz
Rede anlässlich der Verleihung des Bruno-Kreisky-Preises für das Politische Buch 2014
von Najem Wali
veröffentlich in DIE PRESSE, 13. März 2015
Der Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch ist der erste bedeutende Preis überhaupt, der mir verliehen wird. Er kommt zu einem Zeitpunkt, über den ich mich mit all seinen Implikationen und zufälligen Überschneidungen für mich nur freuen kann, gerade als Autor, der nur ungern ein Notizbuch mit sich herumträgt. Mein kreatives Credo lautet nämlich: Was das Gedächtnis nicht aufbewahrt, taugt nicht, erzählt zu werden! Und ich brauche auch wirklich nur einmal den Startknopf meines Gedächtnisses zu drücken, schon sprudeln die Geschichten wie aus einem Wasserhahn hervor – weniger, um den Durst nach einem Wiederauflebenlassen vergangener Erinnerungen zu stillen, die wie süße Qualen auf meinem Herzen lasteten, wie bei jemandem, der sich im heißesten Sommer an kühlem Wasser labt, sondern weil es mir Freude bereitet, mein Vergnügen am Erzählen mit der Welt zu teilen, es ist ein Ausdruck von Großherzigkeit, wie das Erzählen überhaupt. Sehen wir uns doch nur einmal an, wie Liebende sich gerade in den Tagen der ersten Verliebtheit mit süßen Wasserströmen übergießen, die sich einen Weg in ihre Herzen bahnen. Und wer erzählt, wird zwangsläufig auch erkennen, wo sich seine Geschichte mit denen der anderen überschneidet. Viele Zufälle. Obwohl es laut RobertMusil ja keine Zufälle gibt, sondern nur eine Menge sich begegnender Möglichkeiten. Oder, um mit Ingeborg Bachmann zu fragen: „Wann begegnen sich unsere beiden Geschichten?“
Najem Wali: „Ohne Rilke wäre ich heute wohl tot“
08.03.2015 | 18:33 | von Anne-Catherine Simon (Die Presse)
Die Presse: Sie kommen aus einer kleinen irakischen Stadt, haben in Bagdad deutsche Literatur studiert und leben seit Langem in Deutschland. Was hat Sie im Irak zur deutschen Literatur gebracht?
Najem Wali: Eine Geschichte war wichtig für mich. Als ich 15 oder 16 Jahre alt war und eine Leseratte, habe ich in der kleinen Buchhandlung unserer Stadt ein Büchlein gesehen und es durchgeblättert. Es waren Gedichte, und sie haben mir so gefallen, dass ich mein ganzes weniges Taschengeld dafür ausgegeben habe. Zu Hause las ich von vorn bis hinten, von hinten nach vorn, und später erst habe ich geschaut, wie der Autor heißt – es waren übersetzte Gedichte von Rainer Maria Rilke. So kam meine Beziehung zur deutschen Literatur! Ich dachte: Diese Gedichte sind so schön, die möchte ich einmal im Original lesen.
Najem Wali: „Ich schreibe immer aus der Erinnerung“
In seinem Roman «Bagdad Marlboro» erzählt der irakische Schriftsteller Najem Wali von einem Land im Krieg. Heute erhält der zurzeit in der Villa Sträuli lebende Autor in Wien den Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch. Wie schreibt man aus der Distanz des Exils so einen Roman?
Als 1980 der Iran-Irak-Krieg begann, entzog sich Najem Wali der Einberufung in die Armee und floh nach Deutschland. Auf Desertion stand unter Saddam Hussein die Todesstrafe: Bis zu dessen Ende 2003 durfte Wali seine Heimat, in der bis heute seine Eltern leben, nur noch heimlich besuchen. In Hamburg und Madrid studierte er darauf deutsche und spanische Literatur. Heute ist der Autor, der 1956 in Basra geboren wurde, in Europa eine der bekanntesten Stimmen der arabischen Welt.
Als Journalist schreibt er nicht nur für die im Libanon erscheinende arabische Tageszeitung «Al-Hayat», er meldet sich auch regelmässig in den grossen deutschsprachigen Zeitungen zu Wort. So berichtete er etwa im Januar in der «Neuen Zürcher Zeitung» über die arabischen Reaktionen auf das Attentat in Paris. Seine Bücher erscheinen im Hanser-Verlag. Für das jüngste, den vor einem Jahr erschienenen Antikriegsroman «Bagdad Marlboro», erhält Wali heute in Wien den Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch. Zum Artikel
Vom Glück, den Krieg überlebt zu haben
Hamburger Abendblatt, 6. Februar 2015
Hamburg. Der irakische Schriftsteller Najem Wali stellt seinen aktuellen Roman „Bagdad Marlboro“ anlässlich der Lessingtage im Nachtasyl vor. Dabei treibt ein schlechtes Gewissen den Autor zum Schreiben an.
Irgendwann erzählte der Mann, dieser Mann mit jener eindrucksvollen Vita, von seiner Schwester. Der Schriftsteller Najem Wali hat die Schwester, eine von fünf, aus Bagdad nach Deutschland geholt. Es war gleichsam eine Flucht aus dem Irak, das chronisch instabile Land hatte auch er selbst schon Jahrzehnte vorher verlassen. Die Schwester, eine Arzthelferin, lebt jetzt in Dresden. Zurzeit will sie wieder fliehen.
„Wegen Pegida“, erklärte Wali – und lachte.
„Charlie Hebdo“ aus arabischer Sicht
Empörung – über wen?
von NAJEM WALI
Neue Zürcher Zeitung, 22. Januar 2015
Die arabische Presse befasst sich einlässlich mit den Pariser Attentaten. Aber nur wenige Stimmen verurteilen die Anschläge vorbehaltlos oder pochen gar auf eine Mitverantwortung der arabischen Welt.
«Das Problem, das sich nach der Ermordung der Mitarbeiter von ‹Charlie Hebdo› in erster Linie den Staaten Europas, in zweiter aber auch uns Arabern stellt, ist nicht neu. Es hat mittlerweile mehr als ein halbes Jahrhundert im Hintergrund des Schauplatzes gelauert, auf dem sich die Beziehung Europas mit seinen südlichen Nachbarn konstituiert.» So beginnt der liberale kuwaitische Autor Muhammad al-Ramihi einen Artikel, der unter dem Titel «Nach ‹Charlie Hebdo› – und vorher» am 17. Januar in der Zeitung «Al-Sharq al-Awsat» erschien. Jenes Problem steht seiner Meinung nach in direktem Zusammenhang mit einer anderen Frage: Anerkennt Europa den Islam als Religion, sieht es die hier lebenden Muslime als Teil eines modernen Europa, das zur Koexistenz verpflichtet, oder nicht?
Immer ein «aber»
Al-Ramihi ist nicht der Einzige, der den Ball solchermassen Europa zuspielt – in einem Fall, wo es immerhin um die kaltblütige Ermordung von 17 Menschen geht, die den Brüdern Kouachi und ihrem Verbündeten Amedy Coulibaly zum Opfer fielen.
Bruno-Kreisky-Preis für das Politische Buch 2014
SWR2 – Forum
Sind Diktatoren das kleinere Übel für die arabische Welt?
Sehnsucht nach der starken Hand. Gesprächsleitung: Martin Durm
Es diskutieren: Bernd Erbel – Botschafter a.D. in Kairo, Bagdad, Teheran, Prof. Dr. Michael Stürmer – Historiker und Chefkorrespondent der Welt, Berlin, Najem Wali – irakischer Schriftsteller und Journalist
17.07.2014 | 41:58 Min. | Quelle: SWR
Der irakische Sisyphos
Najem Wali über den Vormarsch des Isis im Irak
Der Schriftsteller Najem Wali hat seine Heimat Irak unlängst besucht und registrierte mit Freude eine Renaissance des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens. Ist die kurze Blütezeit schon am Ende?
Neue Zürcher Zeitung, 26. Juni 2014
Wer Bagdad im Frühling 2014 besucht hat, mag dasselbe gedacht haben wie ich: Die Stadt ist dabei, sich ihre Lebensfreude Stück für Stück zurückzuerobern. Bis im vergangenen April, als ich Bagdad für eine Lesung besuchte, hätte ich mir schwerlich vorstellen können, dass man im Herzen der Stadt, und obendrein im Freien, eine Kulturveranstaltung abhalten könnte, bei der sich über 500 Menschen drängten. Wer hätte das erwartet? Auch auf die Strassen und Märkte war das Leben zurückgekehrt – und das trotz der Gewalt, welche die irakische Hauptstadt nach wie vor heimsuchte. Laut der Statistik der Uno-Mission für den Irak hatten Terroranschläge allein im Februar im Land 703 Todesopfer und 381 Verletzte gefordert, und Bagdad war von solchen Untaten in überdurchschnittlichem Mass betroffen.
Kleine Paradiese
Und dennoch: Die Bewohner hatten es satt, immer nur zu Hause zu sitzen – ganz besonders die Jungen. Ausgehen, flanieren, das war endlich wieder an der Tagesordnung.
„Diktatoren sind wie Frankenstein. Am Ende bleibt ihr Labor zurück.“
Najem Wali erzählt in seinem Roman «Bagdad Marlboro», was die Kriege im Irak mit den Menschen angerichtet haben. Ein Gespräch über den Patriotismus als Droge, das Erstarken religiöser Gruppen – und das Erzählen als Überlebenshilfe.
Geführt von Ruth Renée Reif
Erschienen in der WOZ – Die Wochenzeitung, Zürich, Nr. 25/2014 vom 19.06.2014

WOZ: Herr Wali, Sie sind vor kurzem von einer Lesereise mit «Bagdad Marlboro», Ihrem neuen Roman, aus Bagdad zurück nach Berlin gekommen. Könnten Sie sich vorstellen, wieder in Ihrer Heimat zu leben?
Najem Wali: Ob ich für immer zurückkehren möchte, weiss ich nicht. Aber nach dieser Reise würde ich gerne einige Zeit da leben. So viele junge Menschen kannten meine Bücher und jubelten mir zu. Und trotz der Gefahr von Autobomben in den Peripherien Bagdads kamen sie aus ihren Stadtteilen, um an meiner Lesung teilzunehmen und mich zu treffen. Das war sehr berührend.
Die Originalausgabe Ihres Romans «Bagdad Marlboro» erschien in Beirut. Ist sie im Irak erhältlich?
Mein Roman kann im Irak gelesen werden, auch wenn er Kritik an den Machthabern enthält. Er wird sogar rezensiert. Die Regierungszeitungen kritisieren ihn natürlich und nennen mich einen Verräter. Diese Schreiber gehören zur alten Garde. Sie haben die Uniformen von Saddam Hussein gegen die religiösen Gewänder getauscht.
Najem Wali: „Was ändert ein Schlag aus der Luft am Boden?“
„Man kann Isis nur bekämpfen, indem man die Menschen wieder für sich gewinnt“, sagt Najem Wali.
Ein Interview von Michael Hesse
Frankfurter Rundschau, 22. Juni 2014
Der Schriftsteller Najem Wali spricht im Interview mit der Frankfurter Rundschau über die verzweifelte Lage im Irak, die fatale Rolle Saudi-Arabiens und die aus seiner Sicht einzige Lösung: eine breite Koalition.
Herr Wali, im Irak tobt der Aufstand. Handelt es sich um einen sunnitischen Aufstand oder ist es nur die Terrorgruppe Isis, die für Unruhe sorgt?
Das ist gemischt. Es ist eine Aktion der Terrorgruppe Isis, verbunden mit den Alt-Baathisten und Anhängern des früheren Stellvertreters von Saddam Hussein, Isset al-Duri, auf dessen Kopf die Amerikaner 20 Millionen Dollar ausgesetzt haben. Die Ernennung der Gouverneure von Mossul und Tikrit zeigt seine Handschrift, es sind alte Offiziere von Saddam. Es gibt das Bündnis. Das gibt es, weil es eine große Unzufriedenheit der sunnitischen Bevölkerung in allen sunnitischen Städten gibt. Auch wenn sie nicht mit der Isis-Ideologie einverstanden sind, sehen sie doch nicht ein, warum sie gegen sie kämpfen sollen. Weil sie sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen. Isis und Baathisten fischen dort, wo es Unzufriedenheit gibt.
Überleben in Bagdad: Große Furcht vor den Gotteskriegern
Der irakisch-deutsche Schriftsteller Najem Wali sorgt sich um seine Schwester, die in Bagdad lebt. Für SPIEGEL ONLINE beschreibt er den Überlebenskampf eines Volkes, das schutzlos den Gotteskriegern ausgeliefert ist.
13. Juni 2014
Bei meinem letzten Besuch im Irak, im März 2014, war meine Schwester traurig und auch ein wenig sauer auf mich, weil ich, statt bei ihr zu wohnen, das in der Innenstadt liegende Hotel Bagdad auswählte. Nur mit Mühe konnte ich sie überreden, meine Lesung am al-Kischla in der Mutanabbi-Straße zu besuchen, der Buchhandelsstraße, einer der ältesten Straßen Bagdads.
Meine Schwester wohnt in der Peripherie von Bagdad in der Nähe des Internationalen Flughafens im Nordwesten der Stadt, und die Fahrt von ihrem Haus bis zum Zentrum dauert mit dem Auto zwischen einer bis zu zwei Stunden. Am Ende kam sie dann doch rechtzeitig mit ihrem Mann und ihren drei Söhnen. Sie war zwar froh, mich zu sehen, aber bis zu unserem Abschied enttäuscht, weil ich sie nicht zu Hause besuchen konnte.
Der Sieg des Erzählens
Der in Deutschland lebende irakische Schriftsteller spricht mit Ruth Renée Reif über Patriotismus als Droge und seinen neuen Roman „Bagdad… Malboro. Ein Roman für Bradley Manning“
Der Standard, 31. Mai 2014
STANDARD: Herr Wali, Sie kommen gerade von einer Lesereise mit Ihrem neuen Roman aus Bagdad zurück. Was empfinden Sie, wenn Sie in Ihre Heimat reisen? Können Sie sich vorstellen, wieder dort zu leben?
Najem Wali: Nach dieser Reise würde ich gerne einige Zeit da leben. Ob ich ganz zurückkehren möchte, weiß ich nicht. So viele junge Menschen kannten meine Bücher. Und trotz der Gefahr von Autobomben in den Peripherien Bagdads kamen sie aus ihren Stadtteilen, um an meiner Lesung teilzunehmen und mich zu treffen. Das war sehr berührend.
STANDARD: Die Originalausgabe Ihres Romans erschien in Beirut. Ist sie im Irak erhältlich?
Wali: Mein Roman kann im Irak gelesen werden, auch wenn er Kritik enthält. Er wird sogar rezensiert. Die Regierungszeitungen greifen ihn natürlich an und nennen mich einen Verräter. Das sind die alten Garden. Sie haben die Uniformen von Saddam Hussein gegen die religiösen Gewänder getauscht.
STANDARD: Bereits zu Beginn nennen Sie all die Tugenden, die im Irak verschwunden sind. Haben die jahrzehntelangen Kriege das gesellschaftliche Zusammenleben zerstört?
Das andere Gesicht Bagdads
Kulturszene im Irak
Najem Wali hat sich zu einer Lesung in die irakische Hauptstadt gewagt. Ein Reisebericht.
Erschienen in der TAZ, 27. April 2015
Eine Kulturveranstaltung auf einem öffentlichen Platz im Herzen Bagdads mit Hunderten Zuhörern? Wer hätte das gedacht? Bis zum Tag meiner Ankunft zweifelte ich daran, ob das etwas Erfreuliches wird, ob sich die abenteuerlichen Strapazen einer Reise nach Bagdad für eine Literaturlesung lohnen. In den Nachrichten aus dem Irak hört man täglich von explodierenden Autobomben, sodass es nur eine Frage des Glücks, eine Art russisches Roulette zu sein scheint, ob man selber Opfer des Terrorismus wird. Zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, das genügt.
Allein in den letzten zwei Jahren haben al-Qaida zugerechnete Gruppen über 2.000 blutige Anschläge verübt. Mehr als 6.000 Todesopfer und 20.000 oft sehr schwer verletzte Iraker sind das Resultat. Hunderttausende Menschen sind von der anhaltenden Gewalt traumatisiert, die die Männer von al-Qaida und Islamischer Staat im Irak und in der Levante (Isis bzw. Isil, Daaisch) ausüben, noch verstärkt seitdem sie 2013/2014 in al-Anbar und Falludscha die Kontrolle übernahmen. Mittlerweile kontrollieren sie auch die Stadt Abu Ghraib, die nur 32 Kilometer von der Stadtgrenze Bagdads entfernt liegt.
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass viele Freunde meine wiederkehrenden Besuche in Bagdad für absolut wahnwitzig halten – „Selbstmord“, wie eine Freundin kommentierte. Wahnwitzig erschien auch die Idee einer großen Lesung dort. Ich habe selber lange gezögert: Ist es vernünftig, wie ich es plante, auf einer Freiluftbühne mitten in Bagdad öffentlich aufzutreten, um aus meinem jüngsten Roman vorzulesen, während neben mir ein Bagdader Musikensemble klassische Musik darbietet? Und mehr noch: war es vernünftig und denkbar, dass neben mir eine blonde Frau sitzen sollte, die Auszüge aus der deutschen Übersetzung des selbigen Romans vorträgt? Konnte man vernünftigerweise davon ausgehen, dass dies ohne Zwischenfälle im wahrsten Sinne des Wortes „über die Bühne gehen“ würde?
Gestern noch Ruine – heute Bühne
Kriegsroman „Bagdad Marlboro“
Schuld und Chaos
Welche Schlacht? Welche Front? In seinem großen Kriegsroman „Bagdad Marlboro“ lässt der in Berlin lebende Iraker Najem Wali viele Details im Ungewissen und kommt so der Erfahrung von Soldaten erschreckend nah.
„Bagdad Marlboro“ – die Namen zweier Zigarettenmarken, irakisch die eine, amerikanisch die andere, bilden den Titel des neuen Romans von Najem Wali – einem Höllentrip durch die Kriege des Irak. Najem Wali, der 1956 in der südirakischen Hafenstadt Basra geboren wurde, zu Beginn des irakisch-iranischen Kriegs nach Deutschland floh und heute in Berlin lebt, will die Leiden der Soldaten nicht nach Nationen und Religionen gewichten. Das Credo seines Erzählgeflechts, voller Geschichten, die begonnen und abgebrochen, variiert und zu Ende gesponnen werden, ist bei aller Raffinesse denkbar schlicht: „Alle wissen, dass es in jedem Krieg um nichts anderes geht als um den Tod. (…) Es ist die einzige Wahrheit, die für alle Kriege gilt, die aber niemand offen ausspricht.“
In einer Sprache zwischen Poesie, Fabulierlust, Faktenwissen und nüchterner Proklamation einfacher, aber oft verborgener Wahrheiten schickt Wali den Leser auf eine Tour de Force. Dass sie immer wieder zur Tortur wird, hat weniger mit der Brutalität der Szenen zu tun, in dieser Hinsicht hält sich der Autor eher zurück, als mit dem Gefühl, sich auf schwankendem Boden zu bewegen. Oft weiß der Leser nicht, wo er sich befindet: in welchem der Kriege, an welcher Front? So wird er nicht nur zum Dechiffrieren gezwungen, sondern auch in eine Situation versetzt, die mit der eines Soldaten einiges gemeinsam hat.
Chronist der Kriegsverbrechen
Buchkritik zu „Bagdad Marlboro. Ein Roman für Bradley Manning“
„Die Welt ist ein Saustall, der Irak ihr Zentrum“, befindet der Ich-Erzähler in diesem Roman. Najem Wali gibt darin auf poetische Weise Zeugnis von den gewaltigen Umbrüchen in seinem Heimatland Irak – und würdigt nebenbei den Wikileaks-Informanten Bradley Manning.
22 Jahre nach seiner Flucht ins Exil kehrte der in Berlin lebende Najem Wali 2002 zum ersten Mal zurück in sein Geburtsland. Seither reist er Jahr für Jahr in den Irak. Weil die Menschen dort von kaum etwas anderem als den Verwüstungen des Krieges erzählten, schlüpft der 58 Jahre alte Autor aufs Neue in die Rolle des verlässlichen Chronisten kriegerischer Verbrechen und ethnischer Säuberungen.
„Die Welt ist ein Saustall, der Irak ihr Zentrum“, befindet der Ich-Erzähler, ein ehemaliger Tierarzt, der wie Tausende von Irakern aus Furcht vor Verfolgung den Namen wechselte und so lange von Ort zu Ort zog, bis die Ausreise in die USA gelang. „Bagdad Marlboro“ erschien 2012 in Beirut, ein Jahr vor Beginn des Prozesses gegen den Whistleblower Bradley Manning. Im amerikanischen Garnisonsstädtchen Fort Meade, wo der Fall verhandelt wurde, endet Walis Roman. Der Autor verneigt sich vor dem Mann, der Dokumente über Verbrechen der US-Streitkräfte an die Wikileaks-Plattform weiterleitete und mit diesem Akt bewies, dass man inmitten der „Hölle“ einer um sich greifenden Verrohung widerstehen und ethisches Urteilsvermögen sehr wohl bewahren kann.