Der in Deutschland lebende irakische Schriftsteller spricht mit Ruth Renée Reif über Patriotismus als Droge und seinen neuen Roman „Bagdad… Malboro. Ein Roman für Bradley Manning“
Der Standard, 31. Mai 2014
STANDARD: Herr Wali, Sie kommen gerade von einer Lesereise mit Ihrem neuen Roman aus Bagdad zurück. Was empfinden Sie, wenn Sie in Ihre Heimat reisen? Können Sie sich vorstellen, wieder dort zu leben?
Najem Wali: Nach dieser Reise würde ich gerne einige Zeit da leben. Ob ich ganz zurückkehren möchte, weiß ich nicht. So viele junge Menschen kannten meine Bücher. Und trotz der Gefahr von Autobomben in den Peripherien Bagdads kamen sie aus ihren Stadtteilen, um an meiner Lesung teilzunehmen und mich zu treffen. Das war sehr berührend.
STANDARD: Die Originalausgabe Ihres Romans erschien in Beirut. Ist sie im Irak erhältlich?
Wali: Mein Roman kann im Irak gelesen werden, auch wenn er Kritik enthält. Er wird sogar rezensiert. Die Regierungszeitungen greifen ihn natürlich an und nennen mich einen Verräter. Das sind die alten Garden. Sie haben die Uniformen von Saddam Hussein gegen die religiösen Gewänder getauscht.
STANDARD: Bereits zu Beginn nennen Sie all die Tugenden, die im Irak verschwunden sind. Haben die jahrzehntelangen Kriege das gesellschaftliche Zusammenleben zerstört?
Wali: Kriege hinterlassen Spuren in den Menschen und in der Gesellschaft. Wenn man überleben will, ist man zu jedem Verbrechen fähig, vom Betrug bis zum Mord. Die irakische Gesellschaft hat durch diese Kriege sehr gelitten. Das empfinden alle Iraker. Auch wir im Exil erzählen, wie unsere Familien, unsere Verwandten und Freunde traumatisiert wurden.
STANDARD: „Seit Ankunft der Amerikaner ist das ganze Land verrückt geworden“, lassen Sie Ihren Protagonisten sagen. Begannen die ärgsten Verwüstungen erst nach der amerikanischen Besetzung?
Wali: Ich habe einmal vom Frankenstein’schen Labor gesprochen. Diktatoren sind wie Frankenstein. Wenn sie weg sind, bleibt ihr Labor zurück, und alle Bösartigkeiten treten daraus hervor. Das erleben wir in Syrien. Das haben wir in Libyen gemerkt. Das geschah im Irak. Da war es noch schlimmer, weil eine große Macht mit ihrer militärischen Kraft einmarschierte. Die Menschen verstanden, dass nur die Sprache der Gewalt zählt.
STANDARD: Sie lassen im Roman keinen Zweifel daran, dass es der amerikanischen Besatzung nicht gelang, das Land zu befrieden …
Wali: Die Amerikaner kamen ohne Konzept und Kenntnisse über das Land. Sie wussten nichts über den Irak. Das Erste, was sie taten, war, die Armee zu entlassen. Ein Fehler. Die Armee hatte nie gegen die Amerikaner gekämpft. Sie bestand aus Bauern- und Arbeitersöhnen, die sich aus materieller Not zum Militärdienst entschlossen hatten. Nach ihrer Entlassung standen sie, ohnehin traumatisiert vom Iran-Irak- und vom Kuwaitkrieg, auch noch ohne Einkommen für ihre Familien mit ihren Waffen auf der Straße. Jeder konnte sie rekrutieren. Für 200 Dollar konnte man eine Armee aufstellen. Das geschah auch. Der Bürgerkrieg von 2006 bis 2008 war ein grausames Phänomen.
STANDARD: Warum führten auch die ersten freien Wahlen nach immerhin vierzig Jahren zu keiner Normalisierung der Lage?
Wali: Für den Irak war es nicht wichtig, dass als Erstes Wahlen stattfanden. Viel wichtiger wäre es gewesen, die Infrastruktur aufzubauen und eine zivile Übergangsregierung zustande zu bringen. Nach vier, fünf Jahren hätte man Wahlen organisieren können. Wenn in einem Land, das jahrzehntelang unter diktatorischer Herrschaft stand und von der Welt abgeschottet war, die Regierung gestürzt wird, treten religiöse Kräfte hervor. Das passierte im Irak. Diese religiösen Gruppen fanden leichtes Futter.
STANDARD: Von daher erfolgte der Abzug der Amerikaner ganz unvermittelt. Die Lage im Land war weder befriedet noch gefestigt.
Wali: So wie die Amerikaner 2003 einmarschierten, zogen sie 2011 ab. Warum marschierten sie ein, warum zogen sie ab? Außerdem übertrugen auch die Nachbarländer ihre Konflikte auf den Irak. Der Iran hatte einen Konflikt mit den USA, ausgetragen wurde er in Bagdad. Ähnliches galt für die Türkei.
STANDARD: „Nichts ist quälender als das Gefühl der Schuld“, heißt es im Roman. Gibt es für diese Schuld, der sich Menschen in einem Krieg aussetzen, keinen Ausweg?
Wali: Das ist das Dilemma aller Kriege: Entweder man kommt als Held unter die Erde oder lädt Schuld auf sich. Entziehen kann man sich der Tötungsmaschinerie nicht, auch wenn man nicht an ihr teilnehmen möchte. Mein Protagonist steht vor der Entscheidung: töten oder getötet werden. Einen anderen Ausweg hat er nicht.
STANDARD: Was in Ihrem Roman besonders erschüttert, ist die Grausamkeit. Da werden Menschen gefoltert und lebendig begraben. Ist das die Normalität des Krieges?
Wali: Da tun sich menschliche Abgründe auf, die Angst tritt hervor. Das grausame Gebaren der Amerikaner offenbart nur, dass sie ihre Angst nicht bewältigen können. Sie dürfen nie ihre menschliche Seite zeigen. In den Augen fanatischer Militärs, die an den Krieg glauben, wäre das Schwäche. Und Schwäche darf man nicht zulassen. Hinzu kommt der Hass.
STANDARD: Woher kommt der?
Wali: Die schlimmste Droge ist der Patriotismus. Alle Kriege werden im Namen des Patriotismus geführt. Mit dieser Droge kann man Menschen betäuben. Dann gehen sie hin und denken, sie würden ihre Grenzen, ihre Gesellschaft und ihre Werte verteidigen.
STANDARD: Welche Rolle spielt die religiöse Komponente?
Wali: Der Patriotismus ist eine Religion. Offen sagt niemand, er kämpfe für die Religion. Das sagen nur die Al-Kaida-Leute. Alle anderen reden von Patriotismus, oder man sagt „Friedensmission“ wie die EU. Die Religion unterschlägt man. Aber es sind durchaus religiöse Kriegszüge. Bis heute hat die Menschheit sich von Religion nicht befreit. Wenn ich jetzt auf Marx verweise und auf Religion als Opium des Volkes, wird man das altmodisch nennen.
STANDARD: War die Sprengung der Goldenen Moschee von Samarra am 22. Februar 2006, auf die Sie im Roman verweisen, ein symbolischer Akt, um die Kultur zu zerstören?
Wali: Kulturelle Einrichtungen sind Symbole. Daher werden sie in einem Krieg zuerst angegriffen. Die goldene Kuppel von Samarra war ein besonderes Symbol, weil die Stadt beide Gruppen, Sunniten und Schiiten, beherbergte. Die Heiligen beider Gruppen sind in dieser Stadt begraben. So war diese Kuppel ein Symbol für die Einheit beider islamischen Gruppen und für das Zusammenleben mit anderen Religionen. Genau das wollte man zerstören.
STANDARD: Ihr Roman enthält viele Zitate und Verweise. Auch Dichter lassen Sie auftreten. Was kann Dichtung in Zeiten des Krieges?
Wali: Dichtung versorgt uns mit Träumen. Dank der Träume überlebt der Mensch. Mit Träumen bewältigt er Krisen, Hilflosigkeit und Angst. Mein Dichter im Roman sammelt diese Träume. Er geht zu den Soldaten, die eingekesselt, verloren und einsam in den Gräben zittern und sich vor dem Sterben fürchten, und fragt sie nach ihren Wünschen für die Zeit nach dem Krieg. In einem Notizbuch hält er diese Wünsche fest.
STANDARD: Rückblenden und Geschichten in Geschichten erinnern beim Lesen des Romans an „1001 Nacht“. Sind diese Märchen ein literarisches Vorbild für Sie?
Wali: Ich liebe es, wenn eine Erzählung nicht linear verläuft. Insofern sehe ich mich in dieser Tradition, die viele Schriftsteller der Weltliteratur beeinflusst hat. Vor allem aber sehe ich mich in dieser Tradition, wenn das Erzählen zu einer Form des Überlebens gegen Tyrannei wird. Scheherazade schafft es durch das Erzählen, gegen einen grausamen König zu überleben. Nach 1001 Nacht hat sie drei Kinder von ihm, und er feiert seine Liebe zu ihr. Das ist der Sieg des Erzählens.
STANDARD: Wie beurteilen Sie die Lage der irakischen Schriftsteller?
Wali: Ich kenne gute Schriftsteller, die zur Zeit von Saddam Hussein die innere Emigration vorzogen und sich von der Realität im Lande abwandten. Sie schrieben über Themen aus der babylonischen oder sumerischen Zeit. Nach 2003 schwiegen sie ganz. Die Schriftsteller wiederum, die sich unter Saddam Hussein der Propaganda ergeben hatten, tun dies weiterhin. Sie propagieren die Heiligtümer der schiitischen Religion, weil diese die Macht im Lande stellt. Durch den Wegfall der Zensur und die Freiheit, schreiben zu können, was man will, entsteht nicht automatisch gute Literatur.
Standard: Eigentlich müsste der Irak ein prosperierendes Land sein. Er verfügt über Erdöl, Wasser, fruchtbaren Boden. Aber seit Ihrer Flucht 1980 erlebte er nur Kriege und Chaos. Warum kommt das Land nicht zur Ruhe?
Wali: Solange der Westen im Wohlstand leben will, gibt es für Länder wie den Irak, die reich an Bodenschätzen sind, keine Perspektive, ein Leben in Frieden und Würde zu führen. Nur die billige Ausnutzung der Rohstoffe an anderen Orten der Welt verschafft dem Westen Wohlstand. Daher kommt die Welt nicht zur Ruhe. Wenn der Westen sich vom wilden Kapitalismus verabschiedete, hätte man überall auf der Erde ein friedliches Leben. Aber das wird ein Traum bleiben.
(Ruth Renée Reif, Album, DER STANDARD, 31.5./1.6.2014)